Inhaltsverzeichnis
Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur wird international
stark beachtet. So haben in den letzten drei Jahrzehnten drei deutschschreibende
Schriftsteller den Nobelpreis für Literatur erhalten. Auch in der Germanistik
beschäftigt man sich vermehrt mit den Werken zeitgenössischer AutorInnen. Das
neue Jahrbuch kommt diesem wachsenden Interesse entgegen. Es versteht sich als
Forum zur fundierten wissenschaftlichen Diskussion aktueller Entwicklungen in
der deutschsprachigen Literatur.
Inhaltsverzeichnis/Table of Contents:
I. Schwerpunkt: Berlin-Literatur
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ROLF J. GOEBEL: “Ein Hollywood aus Versatzstücken
heißester europäischer Geschichte”: Durs Grünbein’s Berlin as
Cinematic Spectacle (abstract)
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ANNE-ROSE MEYER: Metropolenpoesie: Durs Grünbeins
Berlin-Gedichte (abstract)
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BRIGITTE WEINGART: Global Village Berlin: Rainald Goetz’s
Internet Journal Abfall für alle (abstract)
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HELENA DA SILVA: Berlin und die historische Wende: Christa
Wolfs Kassandra und Günter Grass’ Ein weites Feld (abstract)
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PAUL MICHAEL LÜTZELER: “Postmetropolis”: Peter
Schneiders Berlin-Trilogie (abstract)
-
DOERTE BISCHOFF: Berlin Cuts: Stadt und Körper in Romanen
von Nooteboom, Parei und Hettche (abstract)
II. Einzelinterpretationen
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MICHELE RICCI: Eluding Histories and Registering Change:
Barbara Köhler’s and Thomas Kling’s 1991 “Picturing” Poems (abstract)
-
STEFANIE HARRIS: Imag(in)ing the Past: The Family Album in
Marcel Beyer’s Spione (abstract)
-
GARY SCHMIDT: Between Venice and West Hollywood: The
Homosexual Text in Joachim Helfer’s Cohn und König (abstract)
-
JÜRGEN HEIZMANN: Komik, Ironie, Groteske: Hans-Ulrich
Treichels Erzählung Der Verlorene (abstract)
-
BRIGITTE ROSSBACHER: Cultural Memory and Family Stories: Uwe
Timm’s Am Beispiel meines Bruders (abstract)
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CAROLINE SCHAUMANN: A Third-Generation World War II
Narrative: Tanja Dückers’s Himmelskörper (abstract)
Rezensionen/Book Reviews
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BLIOUMI, AGLAIA. Interkulturalität als Dynamik. Ein
Beitrag zur deutsch-griechischen Migrationsliteratur seit den siebziger Jahren
(Irene Kacandes)
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BRAUN, MICHAEL, UND BIRGIT LERMEN, HG. Begegnung mit dem
Nachbarn. Aspekte österreichischer Gegenwartsliteratur (Helga
Schreckenberger)
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BROCKMANN, STEPHEN, AND JAMES STEAKLEY, EDS. Heroes
and Heroism in German Culture. Essays in Honor of Jost Hermand April
2000 (Gisela Hoecherl-Alden)
-
EIDUKEVICIENE, RUTA. Jenseits des Geschlechterkampfes:
Traditionelle Aspekte des Frauenbildes in der Prosa von Marie Luise
Kaschnitz, Gabriele Wohmann und Brigitte Kronauer (Jutta Ittner)
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FISCHER, GERHARD. GRIPS. Geschichte eines populären
Theaters (Trudis E. Goldsmith-Reber)
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GILMAN, SANDER L., AND HARTMUT STEINECKE, EDS. Deutsch-jüdische
Literatur der neunziger Jahre: Die Generation nach der Shoah. Beiheft
zur Zeitschrift für deutsche Philologie (Cary Nathenson)
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GOLTSCHNIGG, DIETMAR, HG. Georg Büchner und die Moderne.
Texte, Analysen, Kommentare (Dieter Sevin)
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HAAS, BIRGIT. Modern German Political Drama 1980–2000 (Gerhard
Fischer)
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HONEGGER, GITTA. Thomas Bernhard. The Making of an
Austrian (Gregor Hens)
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LOESCHER, JENS. Mythos, Macht und Kellersprache. Wolfgang
Hilbigs Prosa im Spiegel der Nachwende (Michael Braun)
-
LUBICH, FREDERICK A. Wendewelten. Paradigmenwechsel in
der deutschen Literatur- und Kulturgeschichte nach 1945 (Stephan K.
Schindler)
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THEISEN, BIANCA. Silenced Facts. Media Montages in
Contemporary Austrian Literature (Jacqueline Vansant)
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WARD, SIMON. Negotiating Positions: Literature, Identity
and Social Critique in the Works of Wolfgang Koeppen (Reinhard Zachau)
Editorische Notiz/Editorial Note
Abstracts:
ROLF J. GOEBEL: “Ein Hollywood aus
Versatzstücken heißester europäischer Geschichte”: Durs Grünbein’s
Berlin as Cinematic Spectacle
After reunification, Berlin searches for authentic ways of coming to terms with
Germany’s national history, even while subscribing to postmodern processes of
de-realization typical of electronic mass media, global consumer capitalism, and
architectural simulacra. Although he holds on to modernist notions of poetic
subjectivity and authentic experience, Durs Grünbein depicts the capital as a
postmodern site of virtualization, as a quasi-cinematic “reality studio,” a
Hollywood made up of all kinds of trendy props borrowed from European history.
Filmic metaphors and a cinematic montage style represent Berlin as a
multilayered topography haunted by the ghostly shadows of a repressed or
half-forgotten past that, like flashbacks, continually interrupt the jump cut
sequences of the transitional cityscape after the fall of the Wall.
ANNE-ROSE MEYER: Metropolenpoesie: Durs Grünbeins
Berlin-Gedichte
‘Großstadt’ ist eines der zentralen Themen in der Dichtung Durs Grünbeins.
Berlin kommt darin eine Sonderstellung zu: Am Beispiel der zerstörten, wieder
aufgebauten und neu gestalteten Metropole gewinnt die wechselseitige Bedingtheit
von Werden und Vergehen, Aufkommen und Verfall von Kultur, Weltreichen und
politischen Systemen Evidenz. Die tief greifenden historischen Veränderungen
Berlins, die Grünbein u.a. anhand von Bauwerken versinnbildlicht, beeinflussen
das literarische Sprechen über diese Großstadt. Grünbeins postmoderner
Schreibweise ist dabei ein aufklärerisches Moment eigen, das die Besonderheit
dieser Lyrik ausmacht: In seinen dichterischen Fiktionen entlarvt er u.a.
mittels des Rekurses auf traditionelle Topoi von Großstadtliteratur und
zahlreicher intertextueller Verweise die kulturhistorische Bedingtheit und damit
den konstruktivistischen Charakter nur scheinbar einzigartiger, individueller
Stadtwahrnehmung.
BRIGITTE WEINGART: Global Village Berlin:
Rainald Goetz’s Internet Journal Abfall für alle
In 1998, as literary criticism searched for a novel about the new “Berliner
Republik,” Rainald Goetz started sending out his diary-like notes daily via
the internet. The results of this experiment, entitled Abfall für alle,
were subsequently published in book form as Roman eines Jahres. If
narrating Berlin has always confronted writers with the task of establishing a
“convergence of place and writing strategy,” Goetz’s experiment reveals
how the writing of the city changes in the context of the virtualization of
space. By dissolving the center electronically, the medium of the internet
necessarily affects the writing of the “capital.” In connecting Goetz’s
strategies to media theory and to Pop uses of an urban idiom, this essay
analyzes how Abfall für alle both destabilizes and reestablishes the
distinctions of global vs. local and central vs. peripheral as well as
experience vs. fiction and oral vs. written communication.
HELENA DA SILVA: Berlin und die historische Wende:
Christa Wolfs Kassandra und Günter Grass’ Ein weites Feld
Christa Wolfs Kassandra und Günter Grass' Ein weites Feld konstruieren
unterschiedliche Bilder Berlins, verbunden mit gegensätzlichen historischen
Vorstellungen. In Wolfs Erzählung steht das mythische Troja für Ost-Berlin. Es
entstehen Bilder eines politisch-militärischen Systems, einer dekadenten und
danach zerstörten Polis. Aus Kassandras Monolog erhebt sich die Klage
über das reale Scheitern des Marxismus und die Heraufkunft einer negativen
posthistorischen Zeit. In Grass' dialogischem Roman formt das reale und geistige
Flanieren Archetypen der Stadtliteratur: Berlin wird zum Emblem der Vereinigung,
zum archäologischen Ort, zum Palimpsest und Archiv. Daraus entsteht die (de)konstruktivistische
Vision einer Geschichte der Gleichzeitigkeiten, die sich gegen Ideen vom Ende
der Geschichte und eines Neubeginns richtet.
PAUL MICHAEL LÜTZELER: “Postmetropolis”:
Peter Schneiders Berlin-Trilogie
Aktuelle Raum- und Stadttheorien von Henri Lefebvre bis Edward Soja werden bei
der Interpretation von Peter Schneiders Berlin-Trilogie (Der Mauerspringer,
Paarungen, Eduards Heimkehr) hinzugezogen. Berlin erscheint als “Postmetropolis”,
die — stärker noch als andere Hauptstädte — ihre Funktion als Ort
nationaler Souveränität verloren hat. Es sind Gebäude, in deren
Assoziationsfeldern sich Erinnerungen bilden und Kritik entzündet. Im Mauerspringer
ist das Symbol der kontinentalen Teilung und der Entmachtung der Stadt der
eigentliche Romanheld; in Paarungen spielt — strukturell gesehen —
die Intellektuellenkneipe “tent” eine vergleichbare Rolle, und in Eduards
Heimkehr ist es das geerbte Haus im Ost-Berlin der Postwendezeit, das als
zentrale Metapher die fatale Vergangenheit und die Vereinigungskrise der
Gegenwart verdeutlicht.
DOERTE BISCHOFF: Berlin Cuts: Stadt und Körper in
Romanen von Nooteboom, Parei und Hettche
Gegen Prognosen, die die Stadt des 21. Jahrhunderts als körperlose city of
bits imaginieren, weist der Beitrag nach, daß zumindest in der
literarischen Gestaltung Berlins die Verknüpfung von Stadt und Körper nach wie
vor zentral ist. Cees Nootebooms Allerseelen, Inka Pareis Die
Schattenboxerin und Thomas Hettches Nox zitieren die
traditionsreiche, vor allem in der Moderne virulente Metaphorisierung der Stadt
als Körper ausdrücklich, transformieren sie aber zugleich, indem sie Körper
(in) der Stadt nur mehr als verletzte beschreiben, die Fragmentierungen und
Teilungen ausgesetzt sind. Dabei reflektieren sie nicht nur die spezifische
Geschichte Berlins als eine von Gewalt und Zerteilung, sondern auch das der
Stadtkörper-Metapher inhärente Potential symbolischer Gewalt. Indem sie, im
Sinne Richard Sennetts, vom Schmerz erzählen, geben sie Differenzen und
Heterogenitäten Raum.
MICHELE RICCI: Eluding Histories and Registering
Change: Barbara Köhler’s and Thomas Kling’s 1991 “Picturing” Poems
Poets Barbara Köhler and Thomas Kling employ visual art forms as structuring
elements in their 1991 volumes Deutsches Roulette and brennstabm, respectively.
This article explores examples of this technique, understood in terms of the
poets’ shared concerns for rendering history and change, particularly in the
context of German unification. Significantly, far from offering a completed
picture in words, their poems depict a process of picturing — of both creating
images and viewing them — in which objects are continually altered, effaced,
and newly combined to avoid supporting a single conclusion. Of the same
generation, though from opposite sides of the Wall, Köhler and Kling make use
of this lyrical technique to express both the cautionary and redemptive
potential in envisioning history as process over result.
STEFANIE HARRIS: Imag(in)ing the Past: The Family
Album in Marcel Beyer’s Spione
Foregrounding the interrelation of media and memory, recent German fiction is
dominated by allusions to photography. Beyer's novel is unique, however, in its
de-emphasis of the referential or evidentiary value of the photograph — his
narrator invents the photographs in the family album — stressing
instead the role of the imagination in the encounter with the photographic
image. While the image-text relationship generally announces a tension between
linguistic and pictorial modes of representation, Beyer complicates this
dialectic, revealing a certain fluidity between photograph and text in the
negotiation of a more vital relationship between the past and the present, the
private and the public. The photo collage, which complements (but emphatically
refuses to illustrate) the text, likewise enacts the multiplicity of
heterogeneous stories that cannot be contained within a monolithic view of the
past.
GARY SCHMIDT: Between Venice and West Hollywood: The
Homosexual Text in Joachim Helfer’s Cohn und König
Joachim Helfer’s novel Cohn und König can be read as a metatext
reflecting on the writing of the homoerotic in contemporary German literature.
Helfer’s novel negotiates the border between “das Schwule” and “das
Menschliche,” constructed in the German literary public sphere. Using insights
from queer theory on the function of the queer as a figure for disfiguration,
this essay analyzes how Cohn und König engages with different
possibilities for writing male homosexuality, including the modernist tradition
embodied in Thomas Mann’s Death in Venice and gay liberationist
perspectives associated with American culture. Creating a humanist model of
pederasty written against homogenized gay identities, the novel constructs its
own literary abject in the banality of gay domesticity and the specter of AIDS.
JÜRGEN HEIZMANN: Komik, Ironie, Groteske:
Hans-Ulrich Treichels Erzählung Der Verlorene
Mit der Geschichte um den verschollenen Bruder gelang Hans-Ulrich Treichel
der internationale Durchbruch. Der Beitrag erschließt die komischen, ironischen
und grotesken Kunstgriffe dieses literarischen Textes und interpretiert sie im
Hinblick auf seine Gesamtaussage. Dabei wird die geistige Verwandtschaft des
Ich-Erzählers mit den in Nullität versinkenden Anti-Helden Robert Walsers
deutlich. Die Komik erweist sich als besonders geeignetes Verfahren,
geschichtliches Erleben zu vergegenwärtigen, zumal Komik Dinge in den Blick zu
nehmen vermag, die dem ernsten Diskurs verschlossen bleiben. Die Leistung der
grotesken Stilmittel besteht darin, die bedrohte Identität des Erzählers und
seine fortschreitende Dekomposition vor Augen zu führen. Der Titel Der
Verlorene trifft auf den Erzähler zumindest in gleichem Maß zu wie auf den
am Ende des Zweiten Weltkriegs verschwundenen Bruder.
BRIGITTE ROSSBACHER: Cultural Memory and
Family Stories: Uwe Timm’s Am Beispiel meines Bruders
Uwe Timm’s non-fictional family story Am Beispiel meines Bruders resonates
with and participates in current debates on German suffering in World War II. In
Am Beispiel meines Bruders, the author juxtaposes communicative and
cultural memory, investigating his family’s wartime experiences of suffering,
loss, and guiltlessness and rereading these narratives in light of more recent
historical discourse on German perpetration and culpability. Through a close
analysis of Timm’s technique of montage, this essay highlights how Timm
represents tensions between the radically different narratives of German
suffering and perpetration and how he thus contributes to an ongoing
generational engagement with the German past.
CAROLINE SCHAUMANN: A Third-Generation World
War II Narrative: Tanja Dückers’s Himmelskörper
Marianne Hirsch’s concept of postmemory is applied to the writings of
Tanja Dückers, a third-generation German author, who articulates her responses
to the Holocaust and Nazi Germany. Dückers’s novel Himmelskörper departs
from the responses of the first and second generation by offering a critique of
both familial and institutional remembrance. Freia, Dückers’s protagonist,
notices inconsistencies in her grandparents’ and parents’ waning memories;
she also perceives gaps in her Holocaust education in school as well as in media
coverage and in memorial sites. Having no wartime experiences and memories of
her own, Freia connects childhood memories, transmitted memories, and historical
documentation with her own creative interpretation. Thus, the lack of memory
spurs a creative process that Dückers calls sinnliche Geschichtsschreibung,
which merges memories with emotions, intuition, and imagination.
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