Aus dem
Inhalt:
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Thorsten Fögen: Vorwort
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Sabine Föllinger: Tränen und Weinen in der Dichtung
des archaischen Griechenlands (abstract/
Zusammenfassung)
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Roland Baumgarten: Gefährliche Tränen? Platonische Provokationen und aristotelische Antworten
(abstract/ Zusammenfassung)
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Darja Šterbenc Erker: Die Bedeutung weiblicher Tränen
in antiken römischen Ritualen (abstract/
Zusammenfassung)
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Thorsten Fögen: Tränen in der römischen Liebeselegie
(abstract/ Zusammenfassung)
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Helmut Krasser: Statius und die Tränen des Kaisers (Silvae2.5):
Weinen als Form amphitheatralischer Kommunikation (abstract/
Zusammenfassung)
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Literaturberichte Arvid Kappas: Das Phänomen des Weinens aus der Sicht der Neurosemiotik
(abstract/ Zusammenfassung)
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Ad J. J. M. Vingerhoets: Ein Modell menschlichen Weinens:
Situationseinschätzung, Weinprogramme, interindividuelle Effekte (abstract/ Zusammenfassung)
-
Diskussion
Nicole M. Wilk: „Iss dich schlank!“ Semiotische Grundlagen kulinarischer Handlungen:
Das Beispiel der Lebensmittelwerbung (abstract/
Zusammenfassung)
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Erhebung
Niko M. Wieland:
Semiotisch relevante Lehre an den Hochschulen Deutschlands, Österreichs und
der Schweiz
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Veranstaltungen,
Veranstaltungskalender, Förderpreis Semiotik der DGS, Nachrichten aus der
SGS/ASS, Vorschau auf den Thementeil der nächsten Hefte.
Tränen und Weinen in der Dichtung des archaischen
Griechenlands
Sabine Föllinger
Summary.
Weeping and tears play a central role in the Homeric epic poems Iliad and
Odyssey as the spontaneous expression of various emotions. The reason can
be, above all, sorrow, fury, despair, yearning, and fear, but also desire for
revenge and disappointment, indeed even joy. The importance of weeping in
Homeric epic becomes clear already through the semantic variety of the terms
used for weeping and lamenting. There is no difference in the spontaneous
expression of the emotion of sorrow between men and women, as, unlike in our
contemporary culture, weeping is not regarded as being ‘unmanly’. Men and
women weep not only individually, but also in company. Apart from special
purposes, such as to honor the dead, weeping also serves for “relief’’,
which is felt by the fact of having let tears and laments take their course. The
lyric poet Archilochus, however, takes a different position by exhorting people
to control themselves in sorrow and not to fall into “womanly grief’’.
This difference in judging displays of emotion probably does not derive, as has
been assumed, from developmental roots but is rather specific to the genre. The
epic was intended to arouse emotions. The fact that it succeeded in this in the
Classical Age can be seen in Plato’s criticism of the stirring effect of
Homeric epics, which he felt to be detrimental to a ‘manly’ upbringing. Zusammenfassung. In den Homerischen Epen Ilias
und Odyssee spielen Weinen und Tränen als spontaner Ausdruck
verschiedener Emotionen eine zentrale Rolle. Der Grund dafür können vor allem
Trauer, Wut, Verzweiflung, Sehnsucht und Angst, aber auch Rachsucht und Enttäuschung,
ja sogar Freude sein. Wie wichtig das Weinen in den Epen ist, wird schon durch
die semantische Vielfalt der für Weinen und Klagen benutzten Ausdrücke
deutlich. Dabei gibt es in der spontanen Äußerung von Trauer keinen
Unterschied zwischen Männern und Frauen, wie überhaupt das Weinen – anders
als in unserer heutigen Kultur – nicht als ‚unmännlich‘ gilt. Männer und
Frauen weinen nicht nur individuell, sondern auch in Gemeinschaft. Als Funktion
des Weinens sieht man neben speziellen Zielen, wie der Ehre für die Toten, auch
die „Erleichterung“, die einem dadurch widerfährt, dass man den Tränen und
dem Klagen freien Lauf lässt. Eine andere Position nimmt der Lyriker
Archilochos ein, der dazu ermahnt, sich in der Trauer zu kontrollieren und nicht
„weibischem Kummer“ zu verfallen. Dieser Unterschied in der Bewertung der
Emotionsäußerung dürfte nicht, wie angenommen, entwicklungsgeschichtlich,
sondern eher gattungsspezifisch begründet sein: Das Epos sollte
emotionalisierend wirken. Dass es damit Erfolg hatte, zeigt in Klassischer Zeit
Platons Kritik an der aufwühlenden Wirkung der Homerischen Epen, die einer
Erziehung zur Männlichkeit abträglich sei.
Gefährliche Tränen? Platonische Provokationen und aristotelische Antworten Roland Baumgarten
Summary.
For anyone who reads Plato’s famous critique of poetry in the Politeia,
it seems unquestionable that, in the eyes of the Athenian philosopher, emotions
like grief and sorrow are dangerous to the minds of men. Since, according to
Plato, the soul should resist emotions, the weeping and moaning heroes of
Homeric epic and Attic tragedy do not constitute models worthy of emulation, and
therefore these genres should be banned from the ideal state. There are some
hints, however, that Plato was not an irreconcilable enemy of poetry and
rhetoric which are designed to evoke an emotional response, and that he had a
concept of a new philosophical rhetoric and poetry, which can also move to tears,
but for a better purpose: recognizing one’s own faults, which is the first
step towards overcoming them. In contrast with his teacher, Aristotle had no
need to seek out a new form of poetry. He was highly satisfied with the best
works of the poetic tradition, because for him one of the main aims of an ideal
tragedy was to evoke tears of pity; the experience of such strong emotion in the
sheltered place of the theater could prove salutary for confronting the travails
of everyday life. Zusammenfassung. Für jeden, der Platons berühmte
Dichtungskritik in der Politeia liest, steht es außer Frage, dass in den
Augen des athenischen Philosophen Emotionen wie Kummer und Leid eine Gefahr für
den Verstand eines Menschen bedeuten. Dementsprechend liefern die homerische
Epik und die attische Tragödie schlechte Leitbilder für eine Seele, die
eigentlich widerstandsfähig sein sollte, und deshalb sollten sie auch aus dem
idealen Staat verbannt werden. Doch gibt es einige Hinweise, dass Platon kein
unversöhnlicher Gegner einer auf emotionale Wirkung zielenden Dichtung war,
sondern dass er über ein Konzept zu einer neuartigen philosophischen Rhetorik
und Dichtung verfügte, die zwar gleichfalls zu Tränen rühren kann, doch in
einer besseren Absicht: der Erkenntnis der eigenen Fehler, die den ersten
Schritt zu deren Beseitigung darstellt. Im Gegensatz zu seinem Lehrer hatte
Aristoteles keinen Bedarf, sich nach einer neuartigen Form von Dichtung
umzuschauen. Er war höchst zufrieden mit den besten Produkten der poetischen
Tradition, da es seiner Auffassung nach geradezu eine der Hauptaufgaben der Tragödie
ist, zu Mitleidstränen zu rühren, denn die Erfahrung einer so starken Emotion
im geschützten Raum des Theaters kann heilsam sein für das tägliche Leben der
Zuschauer.
Die Bedeutung weiblicher Tränen in antiken römischen
Ritualen
Darja
Šterbenc Erker
Summary. In ancient Roman times,
weeping was a codified and strictly regulated sign of mourning. It was a ritual
duty towards a dead relative, a friend, or a ruler, and considered especially to
be the task of women. The paper analyzes tears as signs in various ritual and
mythological contexts: weeping during a burial ritual, calling for revenge of
murdered family members, during supplications and in aetiological stories about
the founding of the city of Rome. The article shows that the ancient authors,
who represent upper-class morals, describe women’s tears in a negative way
whenever they object to the ideals of the “civitas’’, whereas the same practice
is represented positively when they act on behalf of the political
community.
Zusammenfassung. Im antiken Rom war das Weinen ein
kodifiziertes und strikt reglementiertes Zeichen der Trauer. Es war eine
rituelle Pflicht gegenüber toten Angehörigen, einem Freund oder dem Herrscher,
die als Aufgabe der Frauen galt. Der Artikel analysiert unterschiedliche
rituelle und mythologische Kontexte, in denen Tränen als Zeichen eingesetzt
wurden: das Weinen während des Begräbnisrituals, beim Aufruf zur Rache
ermordeter Familienmitglieder, bei Supplikationen und in aitiologischen Erzählungen
über die Gründung der Stadt Rom. Aus der Untersuchung geht hervor, dass die
Vertreter der oberschichtlichen Moral die weiblichen Tränen negativ schildern,
wenn sich Frauen mit dem Weinen den Idealen des Zusammenlebens in der „civitas“
widersetzen; wenn sie hingegen die Verdienste der Frauen für die politische
Gemeinschaft betonen, bezeichnen sie die gleiche Praktik als positiv.
Tränen in der römischen Liebeselegie
Thorsten Fögen Summary.
In few literary genres of classical antiquity is the role of emotions as
pronounced as in Roman love elegy, which vividly portrays the feelings of its
characters with respect to gestures, facial expression, and tone of voice. In
this context, the occurrence of tears and crying is particularly noteworthy. The
contribution primarily examines exemplary passages from Propertius and Ovid in
which both women and men are presented as crying. As the reasons for their tears
vary, the analysis of the narrative functions of tears within individual elegies
stands in the foreground of this article. It is shown that the motif of crying
is frequently devoid of weighty emotional import and instead deployed for the
sake of humor and levity. Apart from an investigation of the context in which
tears occur in Roman elegy, the focus is on nonverbal elements and
gender-specific differences that appear in connection with crying. The paper
concludes with some remarks on tears in Ovid’s Ars amatoria and Remedia amoris, followed by an excursus on the role of
crying in works by the Greek epistolographers Alciphron and
Aristaenetus.
Zusammenfassung. Kaum eine literarische Gattung
der Antike thematisiert Emotionen stärker als die römische Liebeselegie. Gefühlsäußerungen
auf gestischer, mimischer und stimmlicher Ebene manifestieren sich in Texten
dieses Genres besonders eindrücklich. Auffällig ist dabei das häufige
Auftreten von Tränen. In diesem Beitrag werden exemplarische Passagen vor allem
aus Properz und Ovid diskutiert, in denen sowohl Frauen als auch Männer als
weinend dargestellt sind. Die Gründe für deren Tränen sind dabei
unterschiedlicher Art. Im Vordergrund der Betrachtung steht die Frage nach den
narrativen Funktionen von Tränen innerhalb der hier behandelten Liebeselegien.
Dabei wird deutlich, dass das Motiv des Weinens in zahlreichen Fällen seiner
Ernsthaftigkeit entkleidet und als ein Element des Humors eingesetzt wird. Neben
einer genauen Analyse des Kontextes, in dem innerhalb der römischen Elegie Tränen
auftreten, richtet sich das Augenmerk dieser Untersuchung zugleich auf
diejenigen nonverbalen Elemente, die mit dem Weinen verbunden sind, sowie auf
diesbezügliche geschlechtsspezifische Unterschiede. Es schließt sich ein
kurzer Ausblick auf Ovids Ars amatoria und die Remedia amoris an
sowie ein Exkurs zur Rolle von Tränen bei den griechischen Epistolographen
Alkiphron und Aristainetos.
Statius und die Tränen des Kaisers (Silvae
2.5):Weinen als Form amphitheatralischer Kommunikation
Helmut Krasser Summary.
This paper analyzes the Roman amphitheater as a space of symbolic communication;
the focus lies on the semantic potential of the shedding of tears both by the
spectators and the organizers (viz. provincial procurators or the emperor
himself). After a short summary of the decisive characteristics and functions of
amphitheatrical stagings, two different groups of testimonies are dealt with:
texts that supply immediate evidence by presenting weeping scenes in the
amphitheatre, and texts that thematize generals and emperors weeping in critical
wartime situations. These testimonies provide sufficient evidence that the two
types of ostentative gestures shared a communicative function: both establish
and reinforce a consensus between the respective agents – achievement of
concord being one of the most important functions of amphitheatrical stagings in
general. On this basis, the poem Silvae 2.5 by Statius is read as a literary
staging of amphitheatrical communication, and the strategies which this text
employs (especially the representation of a weeping emperor) are analyzed within
the framework of amphitheatrical rituals of consensus. Zusammenfassung. Der vorliegende Beitrag untersucht das
Amphitheater als einen Raum symbolischer Kommunikation und das semantische
Potential des Weinens von Publikum und Spielegebern (Kaiser / Statthalter) im
Horizont dieser Kommunikation. Neben einem kurzen Überblick über zentrale
Aspekte und Funktionen amphitheatralischer Inszenierungen werden zunächst zwei
Zeugnisgruppen in den Blick genommen: zum einen Zeugnisse, die ganz unmittelbar
einschlägige amphitheatralische Szenen beschreiben, zum anderen solche, die das
Weinen von Feldherrn und Kaisern in militärischen Krisensituationen
thematisieren. Im Folgenden wird gezeigt, dass ein zentrales Element, das diese
beiden ostentativen Gesten in ihrer kommunikativen Funktion verbindet, in der
Herstellung von Konsens zwischen unterschiedlichen Akteuren besteht – ein
Aspekt, der generell für amphitheatralische Inszenierungen bedeutsam ist. Auf
der Basis dieser Überlegungen wird dann Silvae 2.5 des Statius als
literarische Inszenierung amphitheatralischer Kommunikation diskutiert und die
Strategie des Textes, dessen Pointe in der Imagination kaiserlichen Weinens
besteht, im Horizont amphitheatralischer Konsensrituale herausgearbeitet.
Geheimnisvolle Tränen: Das Phänomen des Weinens aus der Sicht der Neurosemiotik Arvid Kappas
Summary.
The publication of Charles Darwin’s The Expression of the Emotions in Man
and Animals in 1872 is usually seen as the starting point of modern
empirical emotion research. Darwin argued that expressive behavior initially
served certain physical functions that were useful for the propagation of a
species, but gained communicative value in the course of evolution. While he
found such functional origins for most of the ‘standard‘ emotional expressions,
emotional tears were an exception. He considered them to be a by-product of the
constriction of a muscle group to protect the eyes. Since then behavioral
scientists have tried to unravel the origin and the function of weeping – a
behavior that appears, despite its universality, to be as mysterious as it is
fascinating. Vingerhoets et al. (2000) present a
comprehensive process model of crying which may allow an integration of theories
and empirical data that have accumulated so far.
Zusammenfassung. Die Veröffentlichung von Charles
Darwins The Expression of
the Emotions in Man and Animals im Jahre 1872
wird allgemein als der Beginn der empirischen Emotionsforschung angesehen.
Darwin argumentierte, dass Ausdrucksverhalten ursprünglich direkt bestimmten
physischen Funktionen diente und dadurch dem Fortbestand einer Art nützte, im
Laufe der Evolution jedoch eine kommunikative Bedeutung gewann. Während er für
die meisten „typischen“ Emotionsausdrücke funktionale Erklärungen finden
konnte, blieb die Ursache der Tränen für Darwin ungeklärt. Er vermutete, dass
es sich um eine Begleiterscheinung der Aktivität einer Muskelgruppe handelte,
die die Augen schützen sollte. Seitdem haben Verhaltensforscher versucht, den
Ursprung und die Funktion der Tränen zu ergründen – ein Verhalten, das trotz
seiner Universalität so mysteriös wie faszinierend scheint. Vingerhoets u.a.
(2000) stellen ein Prozessmodel des Weinens vor, das vermutlich die bisher
umfassendste Integration von Theorien und empirischen Daten erlaubt.
Ein Modell menschlichen Weinens: Situationseinschätzung, Weinprogramme,
interindividuelle Effekte
Ad J. J. M.
Vingerhoets Summary. This contribution
describes the present state of research concerning human crying on the basis of
scientific publications and results of the Tilburg research group. The shedding
of tears is regarded not only as a psychobiological process with possible
effects on the physical and mental well-being of the crying person, but also as
a process of sign production and communication between the person crying and
other persons present. In this respect, protest crying must be differentiated
from resigned weeping. According to the context of explanation chosen, one can
distinguish ethological, anthropological, psychological, psychoanalytical, and
biochemical approaches to the study of crying. After presenting reductionist
explanation attempts and their shortcomings, the author describes relevant
differences in the crying behavior of babies, children, adolescents, and both
male and female adults, which can only be explained on the basis of a holistic
approach. He presents a comprehensive model of adult crying, which not only
accounts for these behavior differences, but also covers the antecedents of
crying, its social contexts, its consequences for the crying person, and its
inter-individual effects. In babies and small children crying functions
primarily as a signal of distress and alarm call addressed to a caregiver, and
as an indicator and source of information concerning the health status of the
crying child. In adults, crying also serves to reduce aggression and manipulate
other people; in addition, it can have a cathartic effect on the crying person.
In both contexts, crying can be considered an important means for reinforcing
the attachment of other persons, and an emotion-focused and problem-focused
coping mechanism.
Zusammenfassung. Der vorliegende Beitrag schildert
den gegenwärtigen Forschungsstand zum menschlichen Weinen auf der Grundlage der
Fachliteratur und der Ergebnisse der Tilburger Forschungsgruppe. Dabei wird das
Tränenvergießen nicht nur als psychobiologischer Vorgang mit möglichen
Auswirkungen auf das physische und mentale Wohlbefinden der weinenden Person
verstanden, sondern auch als Zeichenproduktion und Kommunikation der weinenden
Person mit den Anwesenden. In diesem Sinne ist Protestweinen etwas anderes als
resignierendes Weinen. Je nach dem gewählten Erklärungskontext werden
ethologische, anthropologische, psychologische, psychoanalytische und
biochemische Ansätze zur Untersuchung des Weinens unterschieden. Nach einer
Darstellung reduktionistischer Erklärungsversuche und ihrer Mängel hebt der
Verfasser auffällige Unterschiede im Weinverhalten von Babys, Kindern,
Heranwachsenden sowie erwachsenen Männern und Frauen hervor, die für einen
holistischen Erklärungsansatz sprechen. Er präsentiert ein umfassendes Modell
des Weinens von Erwachsenen, das nicht nur diesen Verhaltensunterschieden
Rechnung trägt, sondern auch die Anlässe des Weinens, seine gesellschaftlichen
Kontexte, seine Konsequenzen für die weinende Person und seine
interindividuellen Effekte einbezieht. Bei Babys und Kleinkindern funktioniert
das Weinen primär als Notsignal und Hilferuf an die Adresse der Betreuer und
als Anzeichen für und Informationsquelle über den Gesundheitszustand der
weinenden Person. Bei Erwachsenen wird es darüber hinaus eingesetzt zum
Aggressionsabbau und zur Manipulation der Anwesenden und kann zudem einen
kathartischen Effekt auf die weinende Person haben. In beiden Zusammenhängen
ist das Weinen ein Mittel zur Verstärkung der Bindung anderer an die weinende
Person, das sowohl emotionsregulierend als auch problemregulierend wirken kann.
„Iss dich schlank!“Semiotische Grundlagen kulinarischer Handlungen: Das
Beispiel der Lebensmittelwerbung Nicole M. Wilk
Summary. This paper thematizes the
high attention that recent media discourse has paid to the pleasure of eating
and to the risks of consuming the food available in central Europe today. It
treats these topics as symptomatic as well as symbolic of the changes we are
witnessing in the social sphere of contemporary Europe. First, the various
structuralist, functionalist, and socio-psychological research traditions in the
cultural analysis of eating are examined with respect to their semiotic
underpinnings. Then, a semiotic model of culinary culture is introduced which
distinguishes between culinary sign processes, codes, and media and promises to
be useful in bringing together the research results on food styles, eating
practices, and culinary rituals from very different academic disciplines. A
study of selected TV advertisements which promote trends such as snacking,
functionalizing, and health food reveals that the role of meals in the formation
of social groups is decreasing, thus giving room to their instrumentalization in
the self-imaging of the individual with respect to social status, fitness, and
beauty.
Zusammenfassung. Die Aufmerksamkeit, die der
gegenwärtige Mediendiskurs den Freuden des Essens und den Risiken der Ernährung
widmet, in ihrer Symptom- und Symbolhaftigkeit für soziale Umbruchprozesse in
Mitteleuropa zu verstehen, ist eines der Hauptanliegen des vorliegendes
Berichts. Zunächst werden die semiotischen Traditionslinien einer
Kulturforschung des Essens rekonstruiert, wie sie in den verschiedenen
strukturalistischen, funktionalistischen und sozialpsychologischen
Forschungsansätzen bis in die Gegenwart hinein fruchtbar aufgegriffen worden
sind. Auf der Grundlage der Differenzierung zwischen kulinarischen
Zeichenprozessen, Kodes und Medien wird eine Kultursemiotik des Essens
entworfen, die der Notwendigkeit einer disziplinenübergreifenden Betrachtung
komplexer Ernährungsstile, Essenspraktiken und Nahrungsrituale Rechnung trägt.
Die Studie gelangt anhand der aktuellen Fernsehwerbung zu der Einschätzung, dass
die gemeinschaftsstiftende Funktion kulinarischer Handlungen abgelöst wird durch
symbolische und synästhetische Selbstthematisierungen eines Subjekts, das seine
Moral nicht mehr länger an die Auseinandersetzung mit anderen, sondern an eine
gesundheitszentrierte innenweltliche Körperkommunikation
knüpft.
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