Textsorten beruhen wie andere Routinen unseres Handelns auf kulturellen
Übereinkünften und weisen daher eine spezifische kulturelle Prägung auf. Die
Textlinguistik muss sich folglich der Aufgabe stellen, Textsorten verschiedener
Kulturen in ihrer kulturellen Geprägtheit und in ihrer traditionellen Einbindung
zu erfassen und zu beschreiben. Auf dieser Grundlage können Verstehensprobleme
vermieden bzw. erfolgreich bearbeitet werden. Zunächst muss es aber vor allem
darum gehen, dass wir uns Textsorten als Teil der Kommunikationskultur von
Sprach- und Kulturgemeinschaften überhaupt erst einmal in der Vielfalt ihrer
Existenz und mit der Problematik ihrer Beschreibung bewusst machen. Diesem
Anliegen nehmen sich die in diesem Band versammelten Aufsätze am Beispiel
unterschiedlicher Textsorten an.
Aus dem Inhalt:
Teil 1: Textsorten: Gegenstände und Beschreibungsdimensionen
- Kirsten Adamzik: Die Zukunft der Text(sorten)linguistik. Textsortennetze,
Textsortenfelder, Textsorten im Verbund (Abstract)
Teil 2: Kulturkonzepte in der Textsortenbeschreibung
- Jannis K. Androutsopoulos: Textsorten und Fankulturen (Abstract)
- Ines-A. Busch Lauer: Kulturspezifik in englischen und deutschen
Originaltexten – Medizin und Linguistik im Vergleich (Abstract)
- Jan Engberg: Kulturspezifische Ausprägung kulturübergreifender
Texthandlungsmuster – deutsche und dänische Landgerichtsurteile im Vergleich
(Abstract)
Teil 3: Textsorten und Domänen im Kulturvergleich
- Ewa Drewnowska-Vargáné: Kohärenzmanagement und
Emittent-Rezipient-Konstellationen in deutsch-, polnisch- und
ungarischsprachigen Leserbriefen (Abstract)
- Matthias Hutz: "Insgesamt muss ich leider zu einem ungünstigen Urteil
kommen." Zur Kulturspezifik wissenschaftlicher Rezensionen im Deutschen und
Englischen (Abstract)
- Marianne Lehker: Chinesische und deutsche Aufsatzsorten im Vergleich (Abstract)
- Marie-Hélène Pérennec: Die Sprachglosse beiderseits des Rheins: Kulturelle
Unterschiede bei einem gemeinsamen Textmuster (Abstract)
- Marja-Leena Piitulainen: Zur Selbstbezeichnung in deutschen und finnischen
Textsorten (Abstract)
- Daniela Veronesi: Metaphern als Wegweiser in Fachtexten – italienische und
deutsche rechtswissenschaftliche Artikel im Vergleich (Abstract)
Teil 4: Kulturkontakt, Textsortengenese und Textsortengeschichte
- Angelika Linke: Trauer, Öffentlichkeit und Intimität. Zum Wandel der
Textsorte 'Todesanzeige' in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. (Abstract)
- Andreas Wagner: Genetische und kontrastive Perspektiven bei der Analyse
historischer Textsorten. Exemplarisch aufgezeigt an der Textsorte
'Redeeinleitung' im Alten Testament und im Alten Orient. (Abtract)
- Ingo Warnke: Intrakulturell versus interkulturell – zur kulturellen
Bedingtheit von Textmustern. (Abstract)
- Hannes Kniffka: Dialogical genres of newspaper communication across
cultures. Letters to the Editor in English Saudi Arabian Daily Newspapers. (Abstract)
Kirsten Adamzik: Die Zukunft der
Text(sorten)linguistik. Textsortennetze, Textsortenfelder, Textsorten im
Verbund. Die Autorin konstatiert ein verbreitetes Unbehagen an der
Textsortenforschung und versucht, auf der Grundlage einer Skizzierung des
Diskussionsstandes Desiderata zu benennen und zukunftsträchtigere
Vorgehensweisen bei der Beschreibung von Text(sort)en zu umreißen. Es wird für
eine Abkehr von der Untersuchung hoch standardisierter Kleinformen (Kochrezept,
Wetterbericht usw.) plädiert, die oft nur zu relativ trivialen Ergebnissen führe
und den Aspekt des Rekurrenten in Texten zu stark in den Vordergrund stelle.
Abgelehnt wird weiter die Suche nach bzw. das Festhalten an einem begrenzten und
allgemein verbindlichen Inventar von Klassifizierungs- und
Beschreibungskategorien. Insbesondere im Bereich der thematischen und der
sprachlichen Dimension seien differenziertere und aus dem jeweiligen Textkorpus
induktiv gewonnene Parameter notwendig. Im zweiten Teil des Aufsatzes geht es um
den im Untertitel genannten Gesichtspunkt, dessen Untersuchung ein besonders
dringendes Desiderat darstelle. Textsorten stehen nicht verbindungslos
nebeneinander, sondern bilden ein Gesamtsystem, innerhalb dessen sie einen
bestimmten Stellenwert haben. An Phänomenen, die die Beziehungen zwischen Texten
und Textsorten betreffen, werden unterschieden: verschiedene Texte/Textsorten
aus einem (thematisch konstituierten) Diskurs; eng verwandte Textsorten;
syntagmatische Beziehungen zwischen Textsorten; Textsortenrepertoires in
bestimmten Kommunikationsbereichen; kulturelle Unterschiede und historische
Verschiebungen im Stellenwert von Textsorten.
Jannis
K. Androutsopoulos: Textsorten und Fankulturen. Während man bei
Textsortenvergleichen generell davon ausgeht, dass "einzelsprachliche Spezifik
auch immer kulturelle Spezifik" ist, widmet sich dieser Beitrag Kulturspezifika,
die Sprach- und Landesgrenzen überschreiten. Die Beispiele hierfür kommen nicht
aus der Fachkommunikation, sondern aus Populärkulturen und insbesondere
jugendlichen Musikkulturen. Der Beitrag geht von der Kontrastiven Textologie aus
und arbeitet kultursoziologische Literatur auf, um mediale Fankulturen
internationaler Reichweite als Gegenstandsbereich der vergleichenden
Textsortenanalyse zu konstituieren. Dabei wird der Begriff "kulturspezifische
Textsorten" neu bestimmt: Es sind die Textsorten, die eine Fankultur definieren
und kommunikativ aufrechterhalten. Methodisch wird ein Forschungsprogramm
entworfen, das nicht von der isolierten Textsorte, sondern von der mehrere
Medien und Textsorten nutzenden Kommunikationsgemeinschaft ausgeht. Das
klassische Vorgehen kontrastiver Textanalyse wird dabei durch die Analyse
nonverbaler Elemente und die Rekonstruktion von Medienprofilen ergänzt sowie von
einer kontrastiven Ethnographie von Medienaneignung eingerahmt. An empirischen
Beispielen wird schließlich gezeigt, dass international Kulturspezifisches in
verschiedenen Facetten der verbalen und nonverbalen Textgestaltung zu finden
ist. Auf Textsortenebene sind Indikatoren kultureller Zugehörigkeit als Elemente
kulturspezifischer Stile einzuordnen.
Ines-A.
Busch Lauer: Kulturspezifik in englischen und deutschen Originaltexten –
Medizin und Linguistik im Vergleich. Fragen des kulturell determinierten
Schreibens und der Lehrbarkeit akademischer Textsorten sind aufgrund der
zunehmend anglophonen Ausrichtung der Wissenschaften auch in Europa in das
Blickfeld der Fachsprachenforschung gerückt. Der Beitrag stellt Teilergebnisse
eines interdisziplinär (Medizin-Linguistik) und interlingual (Englisch-Deutsch)
ausgerichteten Forschungsprojektes zur Textsorte Originalarbeiten (OA) vor. Im
Mittelpunkt steht die funktionale Makrostruktur in den Texteinleitungen. Diese
wird durch die Art und Abfolge von Teiltextsegmenten (TTS) charakterisiert.
Korpusbeispiele zu den TTS 'Literaturbericht' und 'Zielstellung' von OA
explizieren, dass medizinische Texte stark konventionalisiert sind und sich
durch eine unpersönliche Darstellungshaltung (besonders in den L1- und L2-Texten
deutscher AutorInnen) auszeichnen. Die linguistischen Texte sind wenig
konventionalisiert und die Autoren treten im Text in beiden Sprachen als
kommunizierendes Subjekt auf. Die Verschiedenartigkeit des
Kommunikationsgegenstandes und der unterschiedliche Grad fachlicher Normierung
sind Gründe für die interdisziplinären Unterschiede. Die interlingualen und
interkulturellen Unterschiede beruhen auf dem Sprachsystem, aber auch auf der
(fachlichen) Sozialisation und der Textsortenkompetenz der AutorInnen.
Jan Engberg: Kulturspezifische Ausprägung
kulturübergreifender Texthandlungsmuster – deutsche und dänische
Landgerichtsurteile im Vergleich. Die vorliegende Arbeit stellt einen
analytischen Beschreibungsansatz vor, der bei der Beschreibung und
interkulturellen Kontrastierung von textsortenrelatierten Konventionen
Verwendung findet. Es wird in Anlehnung an Adamzik (1995) grundsätzlich zwischen
zwei Begriffen in der Textsortenbeschreibung unterschieden, der Textsorte
als Gruppe von konkreten Texten und dem Texthandlungsmuster als
Einheit eines Regelsystems, in dem auf der einen Seite sprachstrukturelle
Einheiten und Vorkommnisse und auf der anderen Seite Wissen um funktionale und
situationelle Bedingungen zueinander in Beziehung gesetzt werden. Sowohl das
vollumfassende Muster, das als Hintergrund für die Klassifikation von Texten als
zugehörig zu derselben Textsorte, als auch die Teilmuster, aus denen das
genannte Muster für die ganze Textsorte bestehen, sind als Zeichen nach Eco
(1990) aufzufassen. Diese Zeichenhaftigkeit, die als Relation zwischen einem
komplexen Interpretanten und einem sprachlichen Darstellungsmittel aufgefasst
werden kann, stellt die Grundlage für die interkulturelle Kontrastierung von
konventionalisierten Ausdrucksmitteln in deutschen und dänischen
Gerichtsurteilen dar. Diese Kontrastierung zeigt sowohl Ähnlichkeiten als
faktische Null-Äquivalenzen zwischen den Regelsystemen.
Ewa Drewnowska-Vargáné: Kohärenzmanagement und
Emittent-Rezipient-Konstellationen in deutsch-, polnisch- und
ungarischsprachigen Leserbriefen. Im vorliegenden Beitrag werden
Ergebnisse einer kontrastiven Analyse von 120 Leserbriefen erörtert, die aus
deutsch-, polnisch- und ungarischsprachigen Zeitungen und Zeitschriften stammen.
Den Ausgangspunkt der Analyse bildete ein Vergleich unter den Aspekten des
intertextuellen Bezugs und des strukturellen Aufbaus (der festen
Briefkomponenten). Die Ergebnisse dieses Vergleichs ließen bestimmte
Schlussfolgerungen für zwei weitere Aspekte zu, welche im Zentrum der Analyse
stehen und mit Hilfe entsprechender textlinguistischer, universeller Kategorien
untersucht wurden: das Kohärenzmanagement – durch den Vergleich der
metakommunikativen Äußerungen; die Art des Bezugs der Emittenten der
Leserbriefe zu den Autoren der vorausgegangenen Beiträge und/oder zu allen
anderen Rezipienten/-Adressaten – durch den Vergleich der Anredeformen.
Die festgestellten textsortenstrukturellen und -pragmatischen Kontraste werden
als spezifische Kennzeichen der Textsorte Leserbrief in der jeweils anvisierten
deutsch-, polnisch- und ungarischsprachigen Kommunikationskultur
aufgefasst.
Matthias Hutz: "Insgesamt muss ich
leider zu einem ungünstigen Urteil kommen." Zur Kulturspezifik
wissenschaftlicher Rezensionen im Deutschen und Englischen. Mittels einer
Untersuchung wissenschaftlicher Buchrezensionen wurde der Frage nachgegangen,
wie unterschiedliche Kulturen mit der Äußerung von Kritik im wissenschaftlichen
Kontext umgehen. 30 deutsch- und 30 englischsprachige Rezensionen wurden mit dem
Ziel untersucht, anhand eines funktional-integrativen Analyserasters sowohl die
jeweiligen Textbaupläne der Rezensionen miteinander zu vergleichen als auch
Ähnlichkeiten und Differenzen bei der sprachlichen Realisierung kritischer
Äußerungen zu ermitteln. Analysiert wurden hierbei insbesondere sprachliche
Mittel zur Verstärkung bzw. Abschwächung von Kritik sowie die
Darstellungsperspektive der Autoren, wie sie sich in Form von Selbstnennungen
manifestiert. Die Ergebnisse zeigen, dass in den deutschsprachigen Rezensionen
der kritischen Auseinandersetzung nicht nur etwas mehr Raum gewährt wird,
sondern auch, dass die sprachliche Realisierung der Kritik insgesamt direkter
und konfrontativer als bei den amerikanischen Rezensenten ausfällt. Mögliche
Gründe für diese Ergebnisse werden im abschließenden Teil der Arbeit
diskutiert.
Marianne Lehker: Chinesische und
deutsche Aufsatzsorten im Vergleich. In dem Beitrag werden die vier
chinesischen Hauptaufsatzsorten jixuwen, yilunwen,
shuomingwen und sanwen mit den entsprechenden deutschen
Aufsatzsorten Erzählung, Erörterung, Beschreibung und Schilderung
textstrukturell verglichen. Neben Gemeinsamkeiten ist der Hauptunterschied der,
dass chinesische Aufsatzsorten nicht nach der Textfunktion klassifiziert werden
- alle Texte können eine argumentative Funktion aufweisen -, sondern nach der
sogenannten Darstellungsart. Aus Sicht der westlichen Textlinguistik handelt es
sich dabei um die Themenentfaltung. Auf weitere textstrukturelle Besonderheiten
wird eingegangen.
Marie-Hélène Pérennec: Die
Sprachglosse beiderseits des Rheins: Kulturelle Unterschiede bei einem
gemeinsamen Textmuster. In diesem Beitrag geht es darum, einerseits die
pragmatischen Charakteristiken der Sprachglosse als Textsorte herauszuarbeiten,
andererseits die kulturell verschiedenen Realisierungen dieser Textsorte in
Deutschland und Frankreich zu analysieren. Das Korpus umfasst geschriebene
Glossen aus der deutschen und französischen Presse, aber auch Rundfunkglossen
des französischen Lexikologen Alain Rey. Es wird gezeigt, dass die Sprachglosse
in der Zeitung zunächst eine kontaktive Funktion erfüllt, die in der starken
Dialogizität dieser Textsorte zum Ausdruck kommt (direkte Anrede, deiktische
Pronomen, Fragen an den Leser, interaktive Partikeln). Darüber hinaus
kennzeichnet sich die Sprachglosse durch die unterhaltende Funktion. Diese tritt
vor allem in den witzigen Titeln, in der Parodie und in der Schlusspointe an den
Tag. Nebenbei soll die Sprachglosse auch den Leser belehren, wie man schön
schreiben soll. Bei dieser dritten Funktion kommen die kulturellen Unterschiede
zwischen beiden Ländern am stärksten zum Vorschein. Während in Frankreich nur
Fachleute (vor allem die Académie française) sich befugt wähnen, öffentlich als
Sprachhüter aufzutreten, übernimmt in Deutschland jeder sprachbewusste
Journalist gern diese Rolle.
Marja-Leena
Piitulainen: Zur Selbstbezeichnung in deutschen und finnischen
Textsorten. Dem Beitrag liegt die These zugrunde, dass die
Produzent-Rezipient-Konstellation und ihre Definition durch den Sprecher
(Schreiber/Produzenten) wesentlich auf die Darstellungsperspektive einwirkt, d.
h. darauf, aus welcher Perspektive der Sprecher den Sachverhalt darstellt (aus
seiner eigenen, aus der des Rezipienten oder der des Sachverhalts). In der
Selbstbezeichnung als Teilaspekt der Selbstdarstellung wird zwischen
quantitativer und qualitativer Dimension sowie zwischen textsortenspezifischer,
interlingualer/interkultureller, diachroner und idiolektaler Variation
differenziert. Die Hauptaufmerksamkeit wird auf die
interkulturelle/interlinguale Variation gerichtet. Am Beispiel der Textsorten
Todesanzeige, Telefongespräch, Alltagsgespräch und (linguistische) Rezension
werden Unterschiede zwischen den deutschen und finnischen Textsorten
herausgearbeitet. Unterschiede lassen sich sowohl in quantitativer als auch in
qualitativer Dimension feststellen. Zum Schluss wird noch kurz auf den
Zusammenhang der festgestellten Unterschiede mit kulturellen Dimensionen wie
Direktheit–Indirektheit bzw. Förmlichkeit–Unförmlichkeit sowie auf ihre
Erklärung eingegangen.
Daniela
Veronesi: Metaphern als Wegweiser in Fachtexten – italienische und deutsche
rechtswissenschaftliche Artikel im Vergleich. Im Zentrum der vorliegenden
Untersuchung, die auf der Analyse eines aus rechtswissenschaftlichen
Zeitschriftenartikeln in deutscher und italienischer Sprache bestehenden Corpus
beruht, liegt die Verwendung der Metapher im juristischen Diskurs. - Zunächst
wird die Charakterisierung des "wissenschaftlichen Artikels" als zentrales
Mittel des Informationsaustauschs und der -verbreitung der wissenschaftlichen
Gemeinschaft, als Ort eines kollektiven Verständigungsprozesses und der
akademischen Sozialisierung, sowie als expositiv-argumentative Textsorte,
gegeben. Anhand der Corpusanalyse, welche sich auf die kognitive
Metapherauffassung von Lakoff und Johnson stützt, wird dann gezeigt, wie die
Metapher ihre Funktion auf drei Ebenen ausübt: auf sprachlicher Ebene als
Terminologisierungsmittel, auf textueller Ebene als Mittel der Metakommunikation
und der Argumentation und auf diskursiver Ebene als Mittel der Darstellung,
Bestätigung und Reproduktion der Subjekte und Objekte des juristischen Diskurses
(der Jurist, das Gesetz, das Recht). Aus einer interkulturellen Perspektive
lassen sich im textuellen Bereich makrostrukturelle Verteilungsunterschiede
hypothisieren; diskursiv wird die Gemeinsamkeit metaphorischer Modelle
festgestellt, wobei deutschsprachige und italienischsprachige Autoren - als
Vertreter der eigenen Rechtskultur sowie als individuelle Subjekte – jeweils
verschiedene Aspekte hervorheben.
Angelika
Linke: Trauer, Öffentlichkeit und Intimität. Zum Wandel der Textsorte
'Todesanzeige' in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Neben der
'klassischen' Todesanzeige, die den Tod einen Menschen anzeigt sowie Ort
und Datum der Beerdigung bekannt gibt, begegnet heute auch ein Anzeigentypus,
der aufgrund seiner sprachlichen Form und illokutiven Potenz als 'Brief der
Hinterbliebenen an den Verstorbenen' gelesen werden muss. Außerdem findet sich
auch immer häufiger der Typus der "Traueranzeige", in der weniger ein Tod
beklagt als vielmehr der durch diesen Tod ausgelösten Trauer öffentlich Ausdruck
gegeben wird. - Dieser Textsortenwandel (der sich u.a. in der
Veränderung syntaktischer Muster und in der Ausbildung neuer
Phraseologieschablonen zeigt) wird als semiotischer Kristallisationskern eines
umfassenderen kulturellen Wandelprozesses im Rahmen der Konsolidierung
einer "Gesellschaft der Individuen" (Elias) gedeutet. Damit wird gleichzeitig
der Versuch unternommen, den Widerspruch, der sich angesichts der massenmedialen
Veröffentlichung des Privat-Intimen zunächst ergibt, als Ausdruck einer
veränderten sozialen Konzeptualisierung von Individualität und
Öffentlichkeit zu verstehen und ihn in der Rekonstruktion dieser neuen
Konzeptualisierung auszulösen.
Andreas
Wagner: Genetische und kontrastive Perspektiven bei der Analyse historischer
Textsorten. Exemplarisch aufgezeigt an der Textsorte "Redeeinleitung" im Alten
Testament und im Alten Orient. Bei der Analyse von (transnationalen)
Textsorten, die sich in verschiedenen Kulturen/Gesellschaften finden, stellt
sich die Frage nach der Verwandtschaft, die über Kulturgrenzen hinweggeht, und
die Frage nach den Eigengeprägtheiten dieser Textsorten, die kulturspezifisch
sind. Bei der Untersuchung dieser Fragen überlappen sich zwei Vorgehensweisen:
a) Das genetische Vorgehen, d.h. der Versuch, eine Textsorte zu verstehen, indem
ich ihren Entstehungsweg verfolge, ihre Übernahme von einer Sprachgesellschaft
in eine andere beobachte (in einer Kulturaustausch- bzw. einer
Kulturkontaktsituation). b) Das kontrastive Vorgehen, bei dem man Vorfindliches
aus zwei oder mehreren Sprachräumen vergleicht, ohne genetische Beziehungen
anzunehmen. In einem solchen Vergleich müssen besonders Textsortenfelder
untersucht werden. Am Beispiel der Redeeinleitungsformeln aus Texten des A.T.
und des A.O. werden beide Untersuchungsdimensionen exemplarisch vorgeführt. Die
zentrale Frage ist dabei diejenige nach der Spezifik dieser Einleitungsformeln.
Die Untersuchung der Redeeinleitungstexte unter dem Aspekt der Kulturspezifik
hat nun ergeben, dass sich in der Tat im A.T. eine völlig eigene, in sich stark
differenzierte Textsorte bzw. ein Textsortenfeld entwickelt hat, das von den
alttestamentlichen Propheten genutzt bzw. hervorgebracht wurde.
Ingo Warnke: Intrakulturell versus interkulturell
– zur kulturellen Bedingtheit von Textmustern. Texte
realisieren komplexe Handlungsmuster und sind bedeutender Teil der Ausprägungen
jeweiliger Kulturen. Jedes Textmuster steht damit im Spannungsfeld von
intrakultureller Existenz und interkulturellen Bezügen. Die bisherigen
kontrastiven Analysen zur Kulturspezifik von Textsorten sind aus diesem Grund
durch Betrachtung der Textmustergenese zu ergänzen. Eine solche zeigt, dass der
Kulturtransfer, also die interkulturelle Dimension von Textmustern, eine
konstitutive Größe der Textmustergeschichte darstellt. Zur Beschreibung der
interkulturellen Determinanten von kulturspezifischen Textmustern wird ein
Modell vorgestellt, dass Textmustergenesen als Transformationen auffasst.
Hannes Kniffka: Dialogical genres of newspaper
communication across cultures. Letters to the Editor in English Saudi Arabian
Daily Newspapers. This paper deals with some linguistic features,
ethnographic components and massmedia characteristics of communicative acts
established by Letters to the Editor (henceforth LTE) in two Saudi
Arabian English speaking daily newspapers. The overall perspective is cultural
contrast. The main concern is to state some empirical generalizations on how
communication via LTE works, which heuristic classes of LTE can be set up and
what culture-specific dynamic characteristics can be assigned to the LTE of the
Saudi corpus. In focus are hypotheses on culture-contrastive features of the
topic or 'manifest content' of LTE on the "religious page" of Friday Editions of
the papers.
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