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Aus dem Inhalt:
- Roland Posner und Dagmar Schmauks:
Synästhesie: Physiologischer Befund, Praxis der Wahrnehmung, künstlerisches
Programm (Zusammenfassung)
- Stephanie Kneip und Jörg Jewanski:
Synästhetische Wahrnehmung aus neurologischer Sicht (Zusammenfassung)
- Hinderk M. Emrich, Markus Zedler und Udo Schneider:
Bindung und Hyperbindung in intermodaler Wahrnehmung und Synästhesie (Zusammenfassung)
- Jörg Jewanski:
Farbige Töne: Synästhesie und Musik (Zusammenfassung)
- William H. Edmondson:
Farbige Buchstaben: Synästhesie und Sprache (Zusammenfassung)
- Einlage
Sabine Schneider:
"An allen Dingen kleben Farben": Synästhetiker im Erzählcafé (Zusammenfassung)
- Eva Kimminich:
Synästhesie und Entkörperung der Wahrnehmung: Bemerkungen zu einer historischen
Entwicklung in Europa vom 17. bis zum 20. Jahrhundert (Zusammenfassung)
- Literaturbericht
Martin Vetter:
Theologie und Semiotik: Zum Stand des Gesprächs am Beispiel der Peirce-Rezeption in jüngeren Arbeitenevangelischer Theologie
(Zusammenfassung)
- Nachruf
Jeff Bernard:
In memoriam Thomas A. Sebeok (1920-2001)
Roland Posner und Dagmar Schmauks:
Synästhesie: Physiologischer Befund, Praxis der Wahrnehmung, künstlerisches
Programm
Dieser einführende Artikel bespricht zunächst die beiden
Lesarten des Wortes "Synästhesie" als Bezeichnung für einen
physiologischen
Befund und für ein künstlerisches Programm. Ausgehend von der Feststellung,
dass bemerkenswert viele physiologisch fundierte Synästhesien an die
Wahrnehmung kodierter Zeichen gebunden sind, wird der zeichentheoretische
Status der Auslöser synästhetischen Wahrnehmens untersucht und eine
semiotische Klassifikation der Synästhesien in Stimulus-, Signifikanten-,
Signifikat- und Referenten-Synästhesien vorgeschlagen. In der
Charakterisierung der anderen Beiträge zum vorliegenden Zeitschriftenheft
wird der Unterschied zwischen konstitutioneller Synästhesie und Synästhesie
als künstlerischem Rezeptionsprozess herausgearbeitet: Während bei einem
konstitutionellen Synästhetiker eine Wahrnehmung unwillkürlich tatsächliche
Empfindungen in einem oder mehreren anderen Wahrnehmungskanälen auslöst,
kann bei einem synästhetischen Kunstrezipienten eine künstlerische
Wahrnehmung nur die Vorstellung solcher Empfindungen evozieren. Synästhetische Kunstrezeption erweist sich so als intellektualisierte
Parallele eines physiologischen Prozesses.
Stephanie Kneip und Jörg Jewanski:
Synästhetische Wahrnehmung aus neurologischer Sicht
Dieser Beitrag schildert die Forschungsgeschichte zur
Synästhesie. Er beschreibt ihre Genese sowie die Problematik ihrer Diagnose
und Klassifikation. Nach einleitenden Bemerkungen zur Definition und
Auftretenshäufigkeit von Synästhesie erfolgt eine Betrachtung
synästhetischer Zeichen aus semiotischer Perspektive. Im Anschluss daran
wird die Auswirkung dieser seltenen und ungewöhnlichen Wahrnehmungsweise auf
die Persönlichkeit der Betroffenen und auf ihre kognitiven Leistungen
behandelt. Die Kriterien für das Vorliegen synästhetischer Wahrnehmung
werden beschrieben und ihre verschiedenen Formen charakterisiert. Der
Beitrag schließt mit einer Darstellung aktueller neurologischer Hypothesen
zur Entstehung von Synästhesie.
Hinderk M. Emrich, Markus Zedler und Udo Schneider:
Bindung und Hyperbindung in intermodaler Wahrnehmung und Synästhesie
Wenn ein Mensch einen Gegenstand wahrnimmt, werden
Gegenstandseigenschaften über die verschiedenen Wahrnehmungskanäle in Sinnesempfindungen verwandelt, die dann in der Weise aufeinander bezogen
werden, dass der Gegenstand im Bewusstsein als Einheit erscheint. Diesen
weitgehend unbekannten neurobiologischen Prozess nennt man “Bindung³. Wenn
nun bei der Wahrnehmung zusätzlich zu einer gegebenen Sinnesempfindung in
einem anderen Wahrnehmungskanal eine weitere Empfindung entsteht, welche nicht
direkt auf einer Gegenstandseigenschaft beruht, so spricht man von "Synästhesie".
Zum Beispiel werden beim Farben-Hören akustische Gegenstandseigenschaften
zugleich auch visuell wahrgenommen, Diesen Vorgang nennt man
“Hyperbindung". In der vorliegenden Abhandlung wird angenommen, dass
Bindung und Hyperbindung auf dieselben neurophysiologischen Grundlagen zurückzuführen
sind. Es wird vorgeschlagen, die bei der Synästhesie auftretende Prozesskonfiguration
der Hyperbindung als Modell für die Erforschung der
Bindung anzusehen.
Jörg Jewanski:
Farbige Töne: Synästhesie und Musik
Der Beitrag untersucht die Rolle der Synästhesie beim
Komponieren, Aufführen und Verstehen von Musik. Er diskutiert zunächst die
Quellenlage des 16. bis 19. Jahrhunderts und kommt zu dem Schluss, dass die
in der Literatur zu findende Einordnung vieler Autoren als Synästhetiker
revidiert werden muss. Dann bespricht er den Wandel der Einstellungen zur
Synästhesie als pathologischer Erscheinung (zweite Hälfte des 19.
Jahrhunderts) und schöpferischem Potential (Beginn des 20. Jahrhunderts) im
Hinblick auf seine Konsequenzen für Wissenschaft und Kunst. Vier
Einzelfallstudien an Komponisten unterschiedlicher Generationen des 20.
Jahrhunderts (Alexander Scrjabin, Alexander László, Olivier Messiaen und
Michael Denhoff) führen schließlich zu dem Ergebnis, dass das Verhältnis
zwischen Synästhesie und Musik so vielfältig ist wie die individuellen
Ausprägungen der Synästhesie. Zudem wird die Annahme, dass die vier
untersuchten Komponisten im strengen Sinne Synästhetiker sind, in Zweifel
gezogen.
William H. Edmondson:
Farbige Buchstaben: Synästhesie und Sprache
Dieser von einem Synästhetiker verfasste Beitrag
schildert
die Erfahrungen einer Person, deren Wahrnehmung eines jeden Buchstaben
automatisch verknüpft ist mit dem Eindruck, eine bestimmte farbige Aura um
ihn herum zu sehen. Ein Vergleich seiner Erfahrungen mit denen von anderen
Synästhetikern sowie mit den von Nicht-Synästhetikern berichteten
Erfahrungsweisen des Buchstabenlesens veranlasst den Verfasser, Fragen nach
der Intersubjektivität der Wahrnehmung und der Objektivität der
Kommunikation zu stellen. Er diskutiert das weithin gebräuchliche Modell der
Kommunikation, das den Austausch von Botschaften voraussetzt, die auf der
Grundlage eines gemeinsamen Kodes der Kommunikationspartner formuliert und
verstanden werden, und argumentiert, dass dieses Modell der Tatsache nicht
gerecht wird, dass Kommunikation auch zwischen Personen möglich ist, die
nicht über einen gemeinsamen Kode verfügen. Er schlägt daher vor, das
Botschaften-Modell der Kommunikation zu ersetzen durch einen Ansatz, der von
der Reihenbildung und Kontextualisierung der eigenen Wahrnehmungen ausgeht,
seien diese kommunikativer oder nichtkommunikativer Art. Edmonsons Vorschlag
erlaubt ganz verschiedene Grade der Idiosynkrasie in der Wahrnehmung
sprachlicher Zeichen und kann daher sowohl Synästhetikern als auch Nicht-Synästhetikern
auf theoretisch fundierte Weise angemessene Orte in der kommunikativen
Kooperation zuweisen.
Sabine Schneider:
"An allen Dingen kleben Farben": Synästhetiker im Erzählcafé
Die Autorin selbst Synästhetikerin beschreibt zunächst,
an welchen Zeichen in ihrer eigenen Lebensgeschichte sie festgestellt hat,
dass ihre Wahrnehmungen viel bunter sind als die der anderen. Sie versucht
Nicht-Synästhetikern nahezubringen, wie ihre spezielle Synästhesie
funktioniert, die im Wahrnehmen von Farben bei visuellen Zeichen wie
Buchstaben und Ziffern, aber auch beim Hören von Musik und anderen
akustischen Eindrücken besteht. Ferner zeigt sie, inwiefern diese
zusätzlichen Wahrnehmungen im Alltag und beim Lernen hilfreich oder
hinderlich sein können. Abschließend wird das Leipziger “Erzählcafé"
vorgestellt, das Synästhetikern die Möglichkeit gibt, ihre Erfahrungen
auszutauschen und sich Nicht-Synästhetikern gegenüber besser verständlich
zu
machen.
Eva Kimminich:
Synästhesie und Entkörperung der Wahrnehmung: Bemerkungen zu einer historischen
Entwicklung in Europa vom 17. bis zum 20. Jahrhundert
Die Begriffsgeschichte lässt erkennen, dass Synästhesie
erst seit dem 19. Jahrhundert ins Blickfeld wissenschaftlicher Fragestellung
geriet: einerseits als abnorme Verwechslung physiologisch getrennter
Vorgänge, andererseits als künstlerische Technik. Diese Definition
veranlasst die Verfasserin, Synästhesie im Kontext einer abendländischen
Geschichte menschlicher Wahrnehmungskonventionen zu betrachten. Ihr
Rückblick auf philosophische, theologische, medizinische und physiologische
Erklärungsmodelle zeigt, wie leibliches Empfinden von geistigem Erkennen
getrennt wurde. Gleichzeitig, vor allem aber seit dem 18. Jahrhundert,
sorgten mediologische, technische und technologische Entwicklungen für
Möglichkeiten der Aufrüstung und Substitution unserer Sinne. Das der Seele
oder Psyche zugeordnete synästhetische Wahrnehmen wurde im Rahmen dieser
Entwicklungen zu einem in das Reich poetischer Spielerei verwiesenen
Kuriosum. Vor diesem Hintergrund erscheint die somatische Wende der
Postmoderne in einem anderen Licht. Sie lässt ein in Vergessenheit
geratenes, teilweise auch gezielt ausgeblendetes Grundrecht menschlichen
Daseins ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit rücken: das Recht auf eine den
biologischen Gegebenheiten unserer Spezies angemessenen
Persönlichkeitsentfaltung, die in einer primär sinnlichen Wahrnehmung
gründet. Dazu aber müssen die Voraussetzungen erst wieder geschaffen werden:
eine R ü c k b e S i n n u n g.
Martin Vetter: Theologie und Semiotik: Zum Stand des Gesprächs am Beispiel
der Peirce-Rezeption in jüngeren Arbeitenevangelischer Theologie
Einen Einblick in das heutige Gespräch zwischen Theologie
und Semiotik vermitteln ausgewählte neuere Arbeiten, die die Semiotik von
Charles S. Peirce in theologischer Perspektive anwenden. Im Mittelpunkt der
theologischen Rezeption steht die Triadizität des Zeichenbegriffs.
Diskutiert wird zudem das semiotisch begründete Konzept, Wirklichkeit als
Zeichenprozess zu beschreiben. Die Frage nach der semiotischen Erfassbarkeit
des transzendenten Grundes menschlicher Zeichengebung wird theologisch
kontrovers beantwortet.
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