Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur wird international stark
beachtet
Die
deutschsprachige Gegenwartsliteratur wird international stark beachtet. So haben
in den letzten drei Jahrzehnten drei deutschschreibende Schriftsteller den
Nobelpreis für Literatur erhalten. Auch in der Germanistik beschäftigt man
sich vermehrt mit den Werken zeitgenössischer AutorInnen. Das neue Jahrbuch
kommt diesem wachsenden Interesse entgegen. Es versteht sich als Forum zur
fundierten wissenschaftlichen Diskussion aktueller Entwicklungen in der
deutschsprachigen Literatur.
Inhaltsverzeichnis/Table of contents:
Paul
Michael Lützeler: Vorwort
I.
Schwerpunkt: Günter Grass
-
Thomas
W. Kniesche: “Distrust the Ornament”: Günter Grass and the Textual/Visual
Imagination (abstract)
-
Jutta
Heinz: Günter Grass: Ein weites Feld: “Bilderbögen” und oral history (abstract)
-
Monika
Shafi: “Gezz will ich ma erzähln”: Narrative and History in Günter
Grass’s Mein Jahrhundert (abstract)
-
Amir
Eshel: The Past Recaptured? Günter Grass’s Mein Jahrhundert
and Alexander Kluge’s Chronik der Gefühle (abstract)
II.
Tendenzen
-
Ruth
J. Owen: “Eine im Feuer versunkene Stadt”: Dresden in Poetry (abstract)
-
Anne-Rose
Meyer: Physiologie und Poesie: Zu Körperdarstellungen in der Lyrik von
Ulrike Draesner, Durs Grünbein und Thomas Kling (abstract)
-
Carsten
Könneker: Dupliks, ULOs und Upgrades des Menschen: Romanliteratur im
Zeichen der neuen Biotechnologie (abstract)
-
Christine
Mondon: Erinnerung und Form bei Peter Handke: Zum phänomeno-poetischen
Verfahren des Autors (abstract)
III.
Einzelinterpretationen
-
Lutz
Koepnick: Zapping Channels: Uwe Johnson, Margarethe von Trotta, and the
Televisual Aesthetics of Jahrestage (abstract)
-
Brad
Prager: The West German East German Novel: Jurek Becker’s Schlaflose Tage
in Context (abstract)
-
Jürgen
Heizmann: In den Wäldern die Feuer: Geschichte und Aktualität im
Schinderhannes-Roman von Gerd Fuchs (abstract)
-
Martin
Hielscher: Der Kannibalismus des Erzählens: Zu Uwe Timms Roman Kopfjäger
(abstract)
-
Maria
Krol: Christoph Hein: Die Vergewaltigung: Kalender der ‘großen
Geschichte’ versus Kalender der ‘kleinen Geschichte’ (abstract)
-
Hans-Peter
Bayerdörfer: Nebentexte, groß geschrieben: Zu Marlene Streeruwitz’ Drama
New York. New York. (abstract)
-
Heidi
Schlipphacke: Enlightenment, Reading, and the Female Body: Bernhard
Schlink’s Der Vorleser (abstract)
Abstracts:
Thomas W. Kniesche: “Distrust the Ornament”: Günter Grass and the
Textual/Visual Imagination
This article examines the relationship between Grass’s writing and his visual
art. Taking its point of departure from Grass’s interest in the baroque emblem,
it shows that the visualization of narrative structures reflects his adherence
to modernist aesthetics with regard to the displacement of the narrative voice.
Situating Grass’s aesthetics within the context of postwar Germany and his
attempt to go beyond neo-realist writing, the study claims that it was this
specific historical context that determined his ideology of creativity in art
and literature. Scholarship on Grass’s artwork is divided into realist and
allegorical readings of his visual art. It is argued that these two seemingly
different kinds of interpretations of Grass’s intertextual and intermedial
corpus both originate in readings of Walter Benjamin’s concept of allegory.
Jutta Heinz: Günter Grass: Ein weites Feld:
“Bilderbögen” und oral history
Günter Grass’ Roman zur Wiedervereinigung Deutschlands, Ein weites Feld,
löste bei seinem Erscheinen eine polemisch geführte öffentliche Debatte aus.
Man warf Grass vor, der Text sei mehr politisches Pamphlet als Kunstwerk;
poetische Qualitäten wurden ihm rundweg abgestritten. Der Beitrag versucht
anhand der Unsterblichkeitsmotivik nachzuweisen, daß dem Roman eine stringente,
auf den Gegenstand geradezu maßgeschneiderte Poetik zugrundeliegt.
Unsterblichkeit wird dabei nicht nur den großen Werken der Kunst, sondern auch
der unvergänglichen historischen Schuld der Deutschen zugesprochen. Dagegen
setzt Grass eine neue Form von „real existierender Unsterblichkeit“, die in
den alltäglichen Formen erzählter Geschichte und nach dem Muster der
Neuruppiner Bilderbögen poetisch umgesetzt wird.
Monika Shafi: “Gezz will ich ma erzähln”:
Narrative and History in Günter Grass’s Mein Jahrhundert
This article investigates the narrative and historical principles informing Günter
Grass's Mein Jahrhundert, a collection of one hundred stories, one for each year
of the past century. Faced with the challenging task of satisfying both
history's and literature's needs, Grass assumes the dual role of chronicler and
autobiographer, and he presents the last one hundred years as a "history
from below." Yet, Grass's attempt to dismantle the grand récits is only
partially successful because his depiction of women and foreigners tends to
reinscribe patriarchal and ethnocentric discourses. While Grass cannot
completely bridge the gap between representative history and counter-history or
between historical and literary narration, these ambiguities underscore the
fragmentary and multifarious nature of his project, and they also reveal Grass's
renewed belief in the didactic function of history.
Amir Eshel: The Past Recaptured? Günter
Grass’s Mein Jahrhundert and Alexander Kluge’s Chronik der Gefühle
Both Günter Grass’s Mein Jahrhundert and Alexander Kluge’s Chronik der Gefühle
attempt to deliver a précis of the twentieth century. This essay employs
narrative theory to show how substantially different their accounts are.
Grass’s narrative reflects a Hegelian concept of history as a cohesive,
intelligible process that leads to a breach in civilization—to Auschwitz and
beyond. The narration’s aim is thus not merely to present actual and fictive
events but also to uncover the mechanisms behind the historical “process” in
order to illuminate it. Alexander Kluge’s narratives, by contrast, display the
historical as a cluttered sum that the narration can only unfold yet cannot
bring into any intelligible order. The semantics and poetics of his historical
narratives thus center on tracking the movement of individuals and collectives
as they both create and cope with the chaos called history.
Ruth J. Owen: “Eine im Feuer versunkene Stadt”:
Dresden in Poetry
This essay explores a particular manifestation of the “Stadtgedicht” or
city-poem. It traces the way that Dresden has become a significant topos in
German poetry in the second half of the twentieth century. The identification of
a complex of associations, motifs, and images reveals the poets’ concern with
commemorating the devastating fire-bombing of Dresden in 1945. Taking its cue
from essays by Wulf Kirsten and Gerrit-Jan Berendse on Dresden poetry of the
1960s and 1970s, this piece examines how the tradition established in those
decades has been developed by a subsequent generation of German poets writing in
the 1980s and 1990s. The representation of Dresden in relation to various
histories (national, personal, intertextual) returns repeatedly to the tension
between what passes away and what is preserved in perpetuity.
Anne-Rose Meyer: Physiologie und Poesie: Zu Körperdarstellungen
in der Lyrik von Ulrike Draesner, Durs Grünbein und Thomas Kling
Gesellschaftlich brisante Forschungsergebnisse der Naturwissenschaften und
der damit verbundene öffentliche Diskurs haben in den vergangenen zehn Jahren
Inhalt und Schreibweisen von Lyrik geprägt. In Gedichten von Ulrike Draesner,
Durs Grünbein und Thomas Kling lassen sich die Einflüsse neuer
Wissensparadigmen in Medizin, Bio- und Neurowissenschaften aufzeigen. Ihr
literarisches Körper- und Menschenbild ist infolgedessen bestimmt durch: a) die
hirnphysiologische Determinierung von Sprache und Ausdrucksweise sowie die
Negation von Individualität und authentischer Selbst-Aussage eines kreativen
Autor-Ichs aufgrund neurologischer ‘Programmierungen’; b) Kritik am
medizintechnologisch Machbaren (Draesner); c) Darstellung der poetologischen
Implikationen neurokybernetischer Wahrnehmungsmodelle (Grünbein, Kling); d)
Verfahren der Dekonstruktion und Segmentierung als beherrschende
Darstellungsmodi.
Carsten Könneker: Dupliks, ULOs und Upgrades
des Menschen: Romanliteratur im Zeichen der neuen Biotechnologie
Spätestens seit die Feuilletons der großen Zeitungen die so genannten
Lebenswissenschaften für sich entdeckten, sind Gentechnik und
Reproduktionsmedizin nachhaltig in das öffentliche Bewusstsein getreten. Doch
auch die aktuelle Romanliteratur kennt bereits genmanipulierte Organismen,
Hybridwesen zwischen Mensch und Maschine, “Designer-Babys” und mehr. Im
Gegensatz zum literarischen Diskurs der 1920er und 1930er Jahre, als die medial
traktierte moderne Physik zur künstlerischen Auseinandersetzung reizte, geht
von den Romanen im Dunstkreis der neuen Biowissenschaften allerdings keine ästhetisch-stilistische
Innovationskraft aus. Der wichtigste Grund dafür ist, dass es sich hier um
einen primär von der Anwendungsseite getriebenen Diskurs handelt.
Christine Mondon: Erinnerung und Form bei Peter
Handke: Zum phänomeno-poetischen Verfahren des Autors
Die Arbeit an der Erinnerung gründet auf der (nie endenden) Suche
nach der Form. Die Erinnerung verdichtet sich schon in den frühesten Bildern
als Angstvision. Arbeit an der Erinnerung ermöglicht die Annäherung an
die Zeit der Kindheit. Um den Zirkel der leidenden Erinnerung zu durchbrechen,
bedarf es der Erfahrung der Epiphanie. Auf verschiedenen Ebenen überlagern und
durchkreuzen sich die Erinnerungserlebnisse, die eine Wende in Innerweltliches
vollziehen. Bei Handke, dessen Nähe zur Phänomenologie nicht zu übersehen
ist, bedeutet Erinnerung "Arbeit an der Gegenwart". Gegenwart wird als
nie endende “Arbeit am Glück” belebt. Rückerinnerung ist grundlegend
für Handkes phänomeno-poetisches Verfahren; sie ermöglicht eine dynamische
Textur-Strategie, die Bildkonfigurationen schafft.
Lutz Koepnick: Zapping Channels: Uwe Johnson,
Margarethe von Trotta, and the Televisual Aesthetics of Jahrestage
This essay compares the role of television, history, and mediated memory in Uwe
Johnson’s Jahrestage with Margarethe von Trotta’s adaptation of the novel
for television. Whereas Johnson’s novel provides images of fragmentation,
uncertainy, and drift, images that aim at the impossible, namely, to re-present
the sensation of vacant moments, the lived experience of empty time, in von
Trotta’s miniseries the conventions of epic melodrama try to gloss over the
experience of history as vacant and unredeemed. Johnson’s novel is an
attempt not simply to flee from the empty moments and violent ruptures but to
beat them at their own game, while von Trotta exhibits German history—in spite
of all its negativity—as a site of visual attraction and nostalgic
identification.
Brad Prager: The West German East German Novel: Jurek
Becker’s Schlaflose Tage in Context
This essay analyzes Becker's novel with respect to its historical context. In
order to explain the various dimensions of the text, it is first situated
relative to the banishment of Wolf Biermann and Becker’s subsequent
abandonment of the GDR. Significantly, however, the novel's critique of the GDR
takes place not only on the level of its content. This essay concerns itself
primarily with Becker's innovative formal choices. Becker's chosen narrative
perspective reflects uniquely his main character's sudden inability to identify
with the State. The historical importance of the novel, therefore, lies in the
fact that it marks, by way of a formal, narrative shift, the point at which
Becker turned away from the Party and began to criticize the State. With this
novel, the author aligned himself squarely with the Western Marxist literary
tradition.
Jürgen Heizmann: In den Wäldern die Feuer:
Geschichte und Aktualität im Schinderhannes-Roman von Gerd Fuchs
Gerd Fuchs destruiert im Schinderhannes nicht nur den Mythos vom edlen Räuber,
sondern stellt auch die moderne Utopie vom universalen Fortschritt der Freiheit
und Solidarität in Frage. Der Artikel zeigt, wie der Roman trotz realistischer
Illusion aktuelle Erfahrungen wie das Ende des Sozialismus im Geschichtlichen
zum Ausdruck bringt. Alle Akteure — darunter die historischen Figuren Jeanbon
Saint-André, einst mächtiger Jakobiner und ab 1802 Präfekt Napoleons in
Mainz, sowie Georg Friedrich Rebmann, früher radikaldemokratischer Publizist
und nun Gerichtspräsident, — müssen erleben, wie ihr Weltbild von gestern
heute nicht mehr stimmt. Sie werden in “riskante Freiheiten”
entlassen, die der Soziologe Ulrich Beck als Kennzeichen unserer Zeit auffasst.
Die Sympathie des Erzählers gehört dabei den Desperados und Einzelkämpfern,
die jenseits aller Ideologien und Konventionen ihren eigenen Weg suchen.
Martin Hielscher: Der Kannibalismus des Erzählens:
Zu Uwe Timms Roman Kopfjäger
Uwe Timms Roman Kopfjäger wird als Beispiel für eine postkoloniale und
selbstreferentielle Literatur verstanden, die sowohl artistisch wie realistisch
ist. Der Roman verknüpft den nicht-linear erzählten Lebensbericht seines
Protagonisten mit Deutungen der immer noch rätselhaften Kultur der Osterinseln.
Der Ich-Erzähler Peter Walter kämpft um das Recht, sein Leben selbst zu erzählen,
wobei sein Widerstand gegen einen verwandten Schriftsteller, der die Familie
literarisch ausbeutet, weniger postmoderne Ironie ist, als vielmehr Reflexion
von Herrschaftsverhältnissen wie im Kolonialismus. Im Roman werden die
Gegenwartsliteratur wie die archaischen Steinfiguren auf der Osterinsel als “Luxus”-Produktionen
gedeutet. Die Moderne und die kapitalistische Wirtschaft werden durchleuchtet im
Hinblick auf ihr archaisches Erbe.
Maria Krol: Christoph Hein: Die Vergewaltigung:
Kalender der ‘großen Geschichte’ versus Kalender der ‘kleinen
Geschichte’
Die Arbeit zeigt, wie Hein ein aus den Kalendergeschichten von Grimmelshausen,
Hebel und Brecht bekanntes Prinzip der Verbindung zwischen der ‘kleinen’ und
der ‘großen’ Geschichte zum Zweck der Kritik an der offiziellen
DDR-Geschichtsdarstellung mit ihrem ideologischen Bild der historischen
Wirklichkeit verwendet. Eine Erzählstrategie, die bei Hebel eine äußere
Verbindung zwischen der ‘kleinen’ und der ‘großen’ Geschichte schafft,
dient bei Hein der Entlarvung des Ausbleibens einer wirklichen Beziehung
zwischen der persönlichen Geschichte der Protagonistin Ilona und den
sozialpolitischen Ereignissen in der DDR. Ilona identifiziert sich mit der
offiziell propagierten Version der DDR-Geschichte und nimmt die kontroversen
Ereignisse in ihrem Land nicht wahr, was schließlich bei einer Konfrontation
mit der Realität zu ihrer Lebenskrise führt.
Hans-Peter Bayerdörfer: Nebentexte, groß
geschrieben: Zu Marlene Streeruwitz’ Drama New York. New York.
Der Nebentext der neuzeitlichen Dramatik wird in seiner doppelten Funktion
betrachtet: als imaginative Anleitung für die Leserezeption und als präskriptive
oder regulative Vorgabe für die Bühne. Als Indikator für das Verhältnis
zwischen literarischer Dramatik und szenischem Spiel verändert er sich prägnant
in Phasen der Krise und der Reform, so in der zweiten Hälfte des 18. und
im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert. Für die Gegenwart wird
exemplarisch das Textverfahren von M. Streeruwitz untersucht, bei dem der
Haupttext vom Nebentext her überwuchert wird. Daraus ergeben sich gravierende
dramaturgische Konsequenzen. Weitere Vorgehensweisen werden dem gegenüber
gestellt, sei es, daß sie die Differenz zwischen den beiden Textebenen
unterlaufen (A. Ostermaier), sei es, daß sie alle Nebentextelemente in die
Figurenrede einbeziehen (R. Schimmelpfenning).
Heidi Schlipphacke: Enlightenment, Reading, and
the Female Body: Bernhard Schlink’s Der Vorleser
Bernhard Schlink’s novel Der Vorleser has revived a discussion about the
assignation of guilt and the relationship between post-war generation Germans
and their parents. The novel offers, in many ways, a complex view on the
“perpetrators” of World War II. The constellation of figures holds the
potential to reexamine rigid notions of victims and victimizers endemic to a
large body of post-war German literature. The novel shies away from its critical
potential through the detective novel narrative that reveals Hanna to be
illiterate. Rather than exploring the complexities of gender and agency, the
adult narrator attempts to simplify them through a reductive and infantilizing
representation of Hanna. The text engages in a gesture of gender delineation and
marginalization similar to that performed in Immanuel Kant’s “Beobachtungen
über das Gefühl des Schönen und Erhabenen.”
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