Inhaltsverzeichnis
Aus dem Inhalt:
I. Schwerpunkt: Multikultur
-
ROLAND DOLLINGER: “Stolpersteine”: Zafer Senocaks Romane
der Neunziger Jahre (abstract)
-
B. VENKAT MANI: The Good Woman of Istanbul: Emine Sevgi Özdamar's Die Brücke vom
Goldenen Horn (abstract)
-
SABINE FISCHER: Durch die japanische Brille gesehen: Die fiktive Ethnologie der Yoko Tawada (abstract)
-
PETRA S. FIERO:
Life at the Margins of East German Society: Barbara Honigmann's Epistolary
Novel Alles, alles Liebe! (abstract)
II. Tendenzen und Porträts
- MICHAEL BRAUN: “allein zu zweit / sind sie im einen”: Liebe in der Gegenwartslyrik
(abstract)
- CHRISTINE KANZ: Intertextuelle Bezüge: W. H. Audens The Age of Anxiety und Ingeborg
Bachmanns Malina (abstract)
KLAUS ZEYRINGER: “SIE Erwachen”: Marie-Thérèse Kerschbaumers Erzählgeflechte
(abstract)
- STEPHAN BRAESE: “Tote zahlen keine Steuern“: Flucht und Vertreibung in Günter Grass’ Im
Krebsgang und Hans-Ulrich Treichels Der Verlorene (abstract)
- CLAUDIA BREGER: Pop-Identitäten 2001: Thomas Meineckes Hellblau und Christian Krachts
1979 (abstract)
III. Einzelinterpretationen
- PETER C. PFEIFFER: Korrespondenz und Wahlverwandtschaft: W. G. Sebalds Die Ringe des Saturn
(abstract)
- ULRICH BAER: “Learning to Speak Like a Victim”: Media and Authenticity in Marcel
Beyer’s Flughunde (abstract)
- FRIEDERIKE EIGLER: (Familien-)Geschichte als subversive Genealogie: Kathrin Schmidts Gunnar-Lennefsen-Expedition
(abstract)
- NANCY NOBILE: “So morgen wie heut”: Time and Context in Jenny Erpenbeck’s Geschichte
vom alten Kind (abstract)
- ALEXANDER MATHÄS: Martin Walser und der Sinn des Lesens: Zur Ästhetik von Tod eines
Kritikers (abstract)
Rezensionen/Book Reviews
-
BAßLER, MORITZ. Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten (Klaus Müller-Richter)
- BENAY, JEANNE, AND PIERRE BÉHAR, EDS. Österreich und andere Katastrophen.
Thomas Bernhard in memoriam. Beiträge des Internationalen Kolloquiums Universität des Saarlandes
vom 10. bis 12. Juni 1999 (Gregor Thuswaldner)
- BROCKMANN, STEPHEN. Literature and German Reunification (Peter C.
Pfeiffer)
- CATLIN, JO, ED. A History of Women’s Writing in Germany, Austria and
Switzerland (Lisabeth Hock)
- JEROME, ROY, ED. Conceptions of Postwar German Masculinity (Gary Schmidt)
- MAYER-ISWANDY, CLAUDIA. Günter Grass (Siegfried Mews)
- MORRIS, LESLIE, AND KAREN REMMLER, EDS. Contemporary Jewish Writing in
Germany. An Anthology (Erin McGlothlin)
- NICKEL-BACON, IRMGARD. Schmerz der Subjekwerdung: Ambivalenzen und Widersprüche
in Christa Wolfs utopischer Novellistik (Sabine Wilke)
- SEBALD, W. G., AND JAN PETER TRIPP. Unerzählt (Daniel L. Medin)
- SEYHAN, AZADE. Writing Outside the Nation (Stephan K. Schindler)
- SIMON, SUNKA. Mail-Orders: The Fiction of Letters in Postmodern Culture
(Richard Langston)
Abstracts:
ROLAND DOLLINGER: “Stolpersteine”:
Zafer Senocaks Romane der Neunziger Jahre
Das Prosawerk des 1961 in Ankara geborenen und seit 1970 in Deutschland
lebenden Lyrikers, Romanciers, Übersetzers und Publizisten Zafer Senocak wird
analysiert. Was Senocaks Texte Der Mann im Unterhemd (1995), Die Prärie
(1997), Gefährliche Verwandtschaft (1998) und Der Erottomane
(1999) miteinander verbindet ist ein Interesse am Experimentieren mit
potentiellen Existenzformen. Da seine Arbeiten sich nicht auf binäre Polaritäten
reduzieren lassen, weisen sie ein postmodernes/postkoloniales
Erkenntnisinteresse auf. Detailliert werden strukturelle Verwandtschaften
zwischen räumlichen Metaphern des Wohnens bzw. Reisens und Formen des
sozialen “Fremdseins” untersucht. Ferner rücken Verflechtungen türkischer,
jüdischer und deutscher Geschichte ins Blickfeld.
B. VENKAT MANI:
The Good Woman of Istanbul: Emine Sevgi Özdamar's Die Brücke vom
Goldenen Horn
The terms “authentic voice” and “native informant” are at times
claimed by “minority” authors themselves and are often assigned to them by
their multicultural critics. Özdamar's novel employs the idea of performance—from
the Turkish Karagöz to Brecht—both in its formal and thematic aspects in
order to escape a victimized narrative. The first person narrator as cultural
performer is capable of internalizing and articulating elements from both
cultures. The narrator resists categorization as either the native informant/authentic
voice or as the vessel of Western knowledge. Women's intervention in the
narratives of history is investigated at the intersection of cultures and
religions, specifically of Germany and Turkey, of Christianity and Islam.
SABINE FISCHER:
Durch die japanische Brille gesehen: Die fiktive Ethnologie der Yoko Tawada
“Japan gibt es nicht” — mit dieser These attackiert die in Hamburg ansässige
Japanerin Yoko Tawada jene Exotismen, die die Rezeption ihrer Werke in
Deutschland immer noch prägen. Die Schriftstellerin, die seit 1982 in Europa
lebt und — nach eigenen Worten — aus einem europäisierten Land stammt,
betrachtet die Exotik Japans als Summe von Phantasien, die in den Köpfen von
EuropäerInnen existieren und von JapanerInnen allenfalls nachahmend
wiederholt werden. Tawada setzt sich gegen die Zuschreibung einer typisch
japanischen Sichtweise auf den europäischen Alltag durch Imitation zur Wehr.
Ihre pseudo-japanische Perspektive läßt ein imaginäres Europa entstehen.
Die inszenierten Begegnungen mit der Fremde offenbaren die Intentionalität
der Wahrnehmung, ihre Eingebundenheit in die Sprache und ihre Beschränkung
durch tradierte Bilder.
PETRA S. FIERO:
Life at the Margins of East German Society: Barbara Honigmann's Epistolary
Novel Alles, alles Liebe!
The focus here is on the marginalization of the Jewish characters in Barbara
Honigmann's novel Alles, alles Liebe! (2000). Factors contributing to
the feeling of alienation include the tense political situation in the GDR in
the mid-1970s as well as the physical appearance and religious origin of the
characters. The clash between first- and second-generation Jews, the
ambivalence of the younger generation in feeling neither Jewish nor German,
and the problematic relationship between Jews and Gentiles heighten the
characters' sense of not-belonging. In the novel the stifling effect of
state-prescribed Socialist art is counteracted by the staging of a Lorca play
by Anna Herzfeld and her progressive artistic friends. Additionally, this
article demonstrates how Honigmann's employment of the epistolary form harks
back to Romanticism.
MICHAEL BRAUN: “allein zu zweit / sind sie im
einen”: Liebe in der Gegenwartslyrik
Von dem Ruf, die “unaufgeklärteste Gattung der deutschen Literatur” (R.
D. Brinkmann) zu sein, hat sich die Liebeslyrik erst im Gefolge der “Neuen
Subjektivität” in den siebziger Jahren befreit. Unter neuen Bedingungen
erfreuen sich Gedichte über die Liebe großer Beliebtheit. Die historischen
Gründe für die Liebesskepsis der Nachkriegsdichtung werden skizziert und am
Beispiel einzelner Gedichte (D. Grünbein, E. Fried, U. Hahn, S. Kirsch, U.
Kolbe, C. Meckel u.a.) die Ausgestaltungen zentraler Themenkreise untersucht:
Annäherung und erste Liebe; Trennung und Liebesverrat; Lust und Leidenschaft;
Einsamkeit und Gemeinsamkeit. Als poetologische Grundzüge des
zeitgenössischen Liebesgedichts kristallisieren sich ein gesteigertes “Problembewußtsein”
heraus, Satire und Ironie sowie die Wiederkehr traditioneller Formen, etwa des
Sonetts.
CHRISTINE KANZ: Intertextuelle Bezüge: W. H. Audens The Age of Anxiety und Ingeborg
Bachmanns Malina
Nach dem 11. September 2001 ist Das Zeitalter der Angst (1947) des
englischen Dichters Wystan Hugh Auden wieder zu einem vielgelesenen Text
geworden. Bereits nach dem Zweiten Weltkrieg hatte er schon einmal Furore
gemacht. Daß er auch Ingeborg Bachmann in den 1950er Jahren nachhaltig
beeindruckt hat, legen vor allem frappante Parallelen in Bachmanns Roman Malina
nahe. Ebenso wie Audens “dramatisches Gedicht” ist Malina ein Text
über die Angst, und er stellt die unter den Menschen psychisch wirksamen
Zerstörungsmechanismen ins Zentrum. Der Beitrag zeigt die intertextuell
herstellbaren Beziehungen und deren Bedeutung und Funktion auf. Unabhängig
davon, ob diese Intertextualität auf Rezeption beruht oder nicht, wird sie
hier erstmals aufgewiesen.
KLAUS ZEYRINGER: “SIE Erwachen”: Marie-Thérèse Kerschbaumers Erzählgeflechte
Die Wiener Autorin Kerschbaumer, Jahrgang 1936, ist seit ihrem Prosaband Der
weibliche Name des Widerstands (1980) eine über die Grenzen Österreichs
hinaus bekannte Schriftstellerin. Sie verbindet eine genaue Erzählung von öffentlichen
und privaten Vergangenheiten — vor allem aus der NS-Zeit und den
Nachkriegsjahren — mit einem hohen Grad an sprachlich-literarischer
Reflexion. Bezeichnend für Kerschbaumers ästhetisches Verfahren ist die
Verknüpfung strukturalistischer Positionen und realistischer Narration.
Hingewiesen wird auf Kontexte und Bezugspunkte in Kerschbaumers Werken, wobei
der Konnex zwischen den Romanen Schwestern (1982) und der
“Fremdheits-Trilogie” (1992-2000) betont wird. Exemplarisch
analysiert wird der Inhalt als Teil der Struktur, die weibliche Kunst des
Erinnerns und die Darstellung von Fremdheits-Erfahrungen.
STEPHAN BRAESE: “Tote zahlen keine Steuern“: Flucht und Vertreibung in Günter Grass’ Im
Krebsgang
und Hans-Ulrich Treichels Der Verlorene
Mit seiner Novelle Im Krebsgang wollte Günter Grass ein “Versäumnis
der deutschen Nachkriegsliteratur” nachholen, nämlich ihr Schweigen über
Flucht und Vertreibung der Ostdeutschen beenden. Auch wenn dieses Schweigen
nicht so vollständig gewesen war, wie Grass zu suggerieren verstand, markiert
die Novelle eine neue Qualität in der Auseinandersetzung deutscher
Gegenwartsliteratur mit den Vertreibungsverbrechen. Bei Grass und durch
Hans-Ulrich Treichels wenige Jahre zuvor erschienene Erzählung Der
Verlorene werden die Fragen nach Schuld und Schuldwissen neu gestellt:
Mehr als fünfzig Jahre nach Kriegsende wird eine “Poetologie der
Vertreibung” zu erarbeiten versucht, die auch das Thema der
transgenerationellen Übertragung reflektiert.
CLAUDIA BREGER:
Pop-Identitäten 2001: Thomas Meineckes Hellblau und Christian Krachts
1979
Trotz ihrer programmatischen Affinität zu Bewegungen der Dekonstruktion zeugt
die neuere deutsche Popliteratur davon, daß Identitätsfragen zu Beginn des
21. Jahrhunderts ungeminderte Aktualität besitzen. Untersucht wird die
Inszenierung von Ethnizität und Geschlecht an entgegengesetzten Enden des
gegenwärtigen Pop-Spektrums: Kritisch archiviert Thomas Meineckes Roman Hellblau
(2001) die modernen Dispositive von race und gender. Die
Literatengruppe um Christian Kracht wendet sich mit ihrem Manifest Tristesse
Royale dem entgegengesetzten Projekt einer Re-Autorisierung “königlicher”
Männlichkeiten zu. Zu diesem Zweck “sampeln” die Autoren moderne Topoi
der Sexualität und des Orientalismus, ohne aber — wie Krachts neuer Roman 1979
zeigt — den anvisierten Posen ausgezeichneter Identität noch positive
Konturen verleihen zu können.
PETER C. PFEIFFER:
Korrespondenz und Wahlverwandtschaft: W. G. Sebalds Die Ringe des Saturn
Der Aufsatz bestimmt die Eigentümlichkeit Sebaldscher Prosa als ethische
Dimension des Schreibens, die die Körperlichkeit menschlicher Erfahrung
erhalten will. Sebaldsche Schreibtechniken werden daraufhin untersucht,
besonders das Stilmerkmal der grammatischen und semantischen Reihung in seiner
Funktion bei der Entschleunigung des Leseerlebnisses und in der Rekonstruktion
erfahrbarer Vielfalt sowie chronikaler Tiefe. Die damit festgemachte Umsetzung
erzählerischer Sinnlichkeit wird anschliessend erhellt an den Konzepten der
“Korrespondenz” und “Wahlverwandtschaft” in der Form von
intertextuellen Bezügen. Ein Hofmannsthal-Zitat wird dechiffriert und bietet
ein exemplarisches Beispiel für textuelle Praktiken Sebalds. Abschliessend
legt der Aufsatz die poetologische Allegorie des Seidenfadens aus und weist
auf die Verwendung von Elementen christlicher Eschatologie bei Sebald hin.
ULRICH BAER: “Learning to Speak Like a Victim”: Media and Authenticity in Marcel
Beyer’s Flughunde
Marcel Beyer’s critically acclaimed and commercially successful 1995 novel Flughunde
reconstructs the last hours in Hitler’s bunker through invented recordings
from a sound archive established by a Nazi technician. The book offers a
critique of the psychological and ethical notion of authenticity as
legitimating representations of the past. By highlighting the totalitarian
state’s dependence on new technologies and the way these technologies
continue to shape human experience and the collective vision of history, Beyer
offers a new understanding of the persistence of the Nazi past in contemporary
German culture. The essay explicates some of Beyer’s literary techniques and
argues that Flughunde reaches beyond the theoretical positions attained
by contemporary German media theory.
FRIEDERIKE EIGLER:
(Familien-)Geschichte als subversive Genealogie: Kathrin Schmidts Gunnar-Lennefsen-Expedition
Kathrin Schmidt imaginiert eine unkonventionelle deutsche Familiengeschichte
im 20. Jahrhundert. Zwei Aspekte heben Schmidts Roman aus der Fülle von
Erinnerungstexten der neunziger Jahre heraus: Zum einen visualisiert und
thematisiert Schmidt auf oft phantastische Weise Gedächtnis- und
Erinnerungsprozesse. Zum anderen schreibt sie mit Hilfe einer magisch
inspirierten weiblichen Genealogie dominante Vorstellungen von
Geschlechterollen und Rasse und damit von deutscher Geschichte und Nationalität
um. Schmidts Expedition in die deutschen Vergangenheiten (insbesondere der DDR
und des Nationalsozialismus) fordert alle heraus, die allein auf öffentliche
Erinnerungsformeln und Gedenkrituale setzen, oder aber den Rückzug auf ein
privates Gedächtnis propagieren.
NANCY NOBILE: “So morgen wie heut”: Time and Context in Jenny Erpenbeck’s Geschichte
vom alten Kind
The article has two interrelated focal points. It first examines Jenny
Erpenbeck’s Geschichte vom alten Kind as a GDR allegory that plays
upon East/West relations at and since the Wende. This allegorical
dimension is shown to be consistently prominent throughout Erpenbeck’s
novella, at times approaching the brink of caricature. Second, the novella’s
intertextual allusions to Ludwig Tieck’s Der blonde Eckbert are
traced. In contrast to the GDR references, allusions to Tieck do not become
conspicuous until the Wendepunkt of Erpenbeck’s novella, where they
occur in a cluster. These allusions prompt readers to enact a Wende of their
own: to perform a retrospective reading of Erpenbeck’s text—as well as of
Tieck’s novella—in order to integrate newly emergent elements. The
intertextual aspects of Geschichte vom alten Kind thus foster a
scrutiny of the past that resituates the present and enables forward movement.
ALEXANDER MATHÄS:
Martin Walser und der Sinn des Lesens: Zur Ästhetik von Tod eines
Kritikers
Tod eines Kritikers wurde nach seinem Erscheinen nahezu ausschließlich
unter dem Aspekt des Antisemitismusverdachts rezensiert. Analysiert man den
Roman jedoch vor dem Hintergrund von Walsers Lesephilosophie, eröffnen sich
neue Perspektiven, die den Text als vielschichtige und schonungslose
Auseinandersetzung mit dem “eigenen Selbst” erkennen lassen. Die Leser
sollen sich bei diesem Dialog mit dem Text nicht nur als unschuldige Opfer,
sondern auch als “Täter” kennenlernen und so einen Zugewinn an
Selbstbewusstsein erfahren. Walsers Essays zur Rezeption seiner literarischen
Vorbilder offenbaren eine Kontinuität dieser Ästhetik der Selbsterforschung,
die von seinen frühesten schriftstellerischen Impulsen bis hin zu seinen
umstrittenen Veröffentlichungen, wie beispielsweise der Friedenspreisrede und
Tod eines Kritikers, führt.
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