Wie läßt sich in einer modernen, hochindividualisierten
Gesellschaft das Bedürfnis nach Gemeinschaft, nach einem „Wir“ erfüllen, ohne
die individuelle Autonomie aufgeben zu müssen? Angesichts eines globalen
Vergesellschaftungsprozesses sind heute selbst Nationen als vorgestellte
Gemeinschaften kaum mehr in der Lage, eine kollektive Identität zu
generieren.
Hat der Soziologie Ferdinand Tönnies (1855–1936) also recht,
wenn er eine Erosion gemeinschaftlicher Lebensformen für eine unvermeidliche
Begleiterscheinung gesellschaftlicher Modernisierung hält, oder wäre ein
Entwicklungsverlauf denkbar, der einer modernen Gesellschaft eine moderne
Gemeinschaft an die Seite stellte?
Die Studie richtet diese Frage nach
einem Miteinander im Nebeneinander an das literarische Werk Johann
Wolfgang Goethes, eines Autors, der allem nationalen Streben mißtraut, als
Minister in Weimar eine Politik des Lokalen betreibt und der sich – nicht nur
mit seinem Konzept einer Weltliteratur – zugleich für eine kulturelle
Öffnung ins Globale einsetzt. Die Arbeit erkundet, inwieweit insbesondere die
Wilhelm Meister-Romane den Zusammenhang von gesellschaftlichem
Fortschritt und Gemeinschaftszerstörung reflektieren und inwieweit sie Entwürfe
kollektiver Identität beinhalten, deren Rekonstruktion einen
Gemeinschaftsdiskurs befruchten kann, der heute im wesentlichen von
interdisziplinären Forschungszweigen wie dem Kommunitarismus und den
Cultural Studies bestimmt wird.
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